Ein besorgter, ja beinahe schon ängstlicher Ausdruck begann sich auf seinen Zügen breitzumachen, während sein Blick über die niedergebrannten Häuser tastete. Seine Hand legte sich in einer unbewußten Geste auf den Griff des Paradesäbels, der von seiner Seite baumelte. Nirgends war eine Spur von Leben zu erblicken, aber das hatten wir auch nicht erwartet. Aber es war auch nicht ein einziger Toter zu sehen. Und das war beinahe schlimmer.
Langsam gingen wir weiter, flankiert von dem Dutzend Männer, das Harmfeld und mich begleitete. Keiner von uns sprach, und selbst Jennifers Antlitz zeigte Furcht und Schrecken, als wir in die niedergebrannte Stadt eindrangen. Der Ort wirkte - so absurd es klingt - auf beunruhigende Weise friedlich. In dem kleinen, zum Hafen deklarierten Straßenabschnitt, in dem unsere Pinasse angelegt hatte, dümpelte ein halbes Dutzend Fischerboote in der Brandung, ein Stück weiter nördlich lugte das halbverfaulte Wrack eines etwas größeren Bootes aus dem Wasser, das vor Jahren einmal hier aufgelaufen sein mußte, ohne daß sich jemand die Mühe gemacht hatte, es zu bergen. Ein Stück den Strand hinauf, auf halber Strecke zwischen der Flutlinie und dem eigentlichen Ort, erhob sich das windschiefe Gebäude der Hafenkneipe, in der Shannon und ich am Tage zuvor um ein Haar gelyncht worden wären. Seine Tür stand offen, so daß ich ungehindert in sein Inneres blicken konnte. Es war leer. Durch eine Laune des Zufalls war es eines der wenigen Gebäude, die den Brand überstanden hatten. Nicht einmal seine Wände waren geschwärzt.
Harmfeld schickte einen seiner Soldaten mit einer knappen Handbewegung in die Kneipe, nahm die Finger endlich von seinem Säbel und zog statt dessen einen langläufigen Revolver unter seiner Uniformjacke hervor. Das Knacken, mit dem er den Hahn zurückzog, klang in der unheimlichen Stille wie ein Peitschenhieb.
Wir gingen weiter, instinktiv enger zusammenrückend. Das Meer rauschte monoton gegen die Küste, und der Wind begann mit trockenen Abfällen und Fensterläden zu spielen; aber nirgendwo zeigte sich die geringste Spur von Leben. Harmfelds Männer schwärmten aus, um hier und da ein Haus zu durchsuchen, aber das Ergebnis war immer das gleiche. Der Ort war leer. Die Überlebenden - falls es welche gegeben hatte - waren verschwunden, zusammen mit den Toten. Und Harmfelds Hilfstruppe.
»Was ist hier geschehen?« flüsterte Harmfeld. Seine Stimme bebte.
Es war keine Frage, auf die er eine Antwort haben wollte, und so schwieg ich.
Wir durchquerten den Ort und blieben dicht vor der wuchernden grünen Mauer des Dschungels stehen. Harmfeld wich meinem Blick aus, aber ich sah, daß er immer wieder nach oben starrte, zum Gipfel des Krakatau hinauf. Der Berg spie Flammen, aber im hellen Licht der Morgensonne sah das Bild auf bedrückende Weise ästhetisch aus. Es war nichts Bedrohliches daran. Absolut nichts.
»Ich kann es einfach nicht glauben«, murmelte er. »All diese Menschen. Die... die Insel hat beinahe sechshundert Einwohner, und...« Er stockte, scharrte einen Moment mit der Schuhspitze im Boden und sah plötzlich mit einem Ruck auf.
»Sagen Sie mir die Wahrheit, Craven«, sagte er. Seine Stimme klang fast flehend. »Das alles ist doch nicht wahr! Das ist nur ein Trick Ihrer Freunde, damit ich keinen Widerstand leiste!«
»Leider nicht, Kapitän«, antwortete ich. »Ich fürchte, es ist so Der Vulkan wird ausbrechen, in genau dem Moment, den Nemo Ihnen vorhergesagt hat.«
Harmfelds Augen weiteten sich ungläubig, aber irgendwie schien er zu spüren, daß ich die Wahrheit sagte. »Was sind Sie?« fragte er leise. »So eine Art Hellseher?«
»Manchmal«, antwortete ich.
Harmfeld schien noch mehr sagen zu wollen, beließ es aber dann bei einem Kopfschütteln und rammte seine Pistole mit einer übertrieben heftigen Bewegung in die Halfter zurück. »Ich lasse meine Männer die Stadt noch einmal durchsuchen, bevor wir zum Schiff zurückkehren«, sagte er. »Ich muß sichergehen.«
»Das wird Nemo nicht sehr freuen«, sagte ich. »Wir haben keine Zeit dafür.«
Harmfeld fuhr auf. »Wir sollen die Insel evakuieren, oder?« fauchte er. »Das heißt, Menschen zu retten. Und ich fange damit hier an.« Er ballte die Hand zur Faust, beruhigte sich aber so schnell wieder, wie er aufgefahren war. »Und Sie wollen wirklich dort hinauf?« fragte er mit einer Kopfbewegung auf den Vulkan.
»Ja«, antwortete Jennifer an meiner Stelle. »Aber wir werden zurückkommen, Kapitän. Keine Sorge.«
Harmfelds Nicken wirkte nicht sehr überzeugend.
»Dieser Narr«, murmelte Howard. »Dieser verdammte, romantische Narr. Er wird sich umbringen!« Wütend schlug er mit der Faust auf den Tisch, so daß Tintenfaß und Kohlestifte einen wilden Tanz vollführten, zog dann einen seiner berüchtigten schwarzen Zigarillos aus der Brusttasche seines Rockes und riß ein Streichholz an.
»Du hättest ihn aufhalten können«, sagte Nemo, der auf der anderen Seite des Kartentisches Platz genommen hatte. »Warum hast du es nicht getan?«
»Aufhalten?« Howard stieß eine blaue Qualmwolke in die Luft. »Du kennst Robert nicht sehr gut, sonst hättest du das nicht gesagt«, behauptete er. »Eher hinderst du den Krakatau mit bloßen Händen daran, auszubrechen.« Wütend sog er an seiner Zigarre, daß ihr brennendes Ende fast weiß aufglühte.
Nemo hustete demonstrativ. »Was macht dich so zornig?« fragte er leise. »Die Tatsache allein, daß er gegangen ist, oder die, daß er es gegen deinen Willen getan hat?«
Howard schnaubte. »Wenn er nicht zurückkommt, war alles umsonst«, fauchte er. »Ist dir das klar? Er ist genau wie sein Vater, als der im gleichen Alter war. Immer mit dem Kopf durch die Wand. Irgendwann«, fügte er leiser hinzu, »wird er auf eine treffen, an der er sich den Schädel einrennt.«
Wir hatten nur drei Stunden gebraucht, den Weg bis zur Steilküste hinter uns zu bringen, und trotzdem fühlte ich mich, als hätte ich einen Dreißig-Meilen-Lauf hinter mich gebracht. Die Hitze war selbst im Schatten des Dschungels beinahe unerträglich gewesen, und wenn der Lärm, den Jennifer und ich gemacht hatten, auch beinahe alles Leben aus unserer Nähe verscheucht hatte, so hatten sich doch sämtliche Moskitos, Stechfliegen und andere Blutsauger der südlichen Hemisphäre auf mich gestürzt. Wenigstens fühlte ich mich so. Mein ganzer Körper schien eine einzige, unerträglich juckende Beule zu sein. Mit einer Mischung aus Bewunderung und kaum verhohlenem Neid betrachtete ich Jennifer, die wenige Schritte neben mir ging. Irgendwie brachte sie das Kunststück fertig, sich noch immer mit der Eleganz und Grazie einer Lady zu bewegen, obgleich sie wie ich seit drei Stunden nichts anderes tat, als über Wurzeln und Baumstümpfe zu steigen, sich durch Lücken in dornigem Gestrüpp zu zwängen und tiefhängendem Geäst auszuweichen, das ihr ins Gesicht peitschen wollte. Sie hatte nicht einen einzigen Kratzer abbekommen. Übrigens auch nicht einen einzigen Insektenstich ...
Nach einer Ewigkeit hellte sich die dunkelgrüne Dämmerung vor uns auf, und ich spürte wieder den Salzwassergeruch des Meeres durch das Aroma des Waldes. Aufatmend blieb ich stehen und bedeutete Jenny mit einer Handbewegung, es mir gleichzutun.
»Was ist?« fragte sie ungeduldig.
»Nichts. Ich... brauche nur eine kleine Pause, das ist alles«, antwortete ich stockend. Ich lächelte verzeihungsheischend, als ich ihr unwilliges Stirnrunzeln bemerkte, und fügte hinzu: »Die Kletterei zum Strand hinunter wird verdammt anstrengend werden. Du solltest dich auch ein wenig ausruhen.«
»Das alles wäre nicht nötig gewesen, hätten Nemo und Lovecraft ihr Wort gehalten«, sagte Jenny verärgert, ließ sich aber nach kurzem Zögern dicht neben mir auf einen abgestorbenen Baumstumpf sinken und schloß die Augen. Feiner Schweiß bedeckte ihre Stirn. Sie atmete ein wenig schneller als normal. Aber ganz und gar nicht so schnell, wie ein Mensch, der drei geschlagene Stunden durch den Dschungel gewandert war, hätte atmen müssen.