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Jennifer antwortete nicht, aber das fiel mir erst auf, nachdem ich mich schon halb herumgedreht und einen Schritt in den Gang hinein getan hatte.

Verärgert blieb ich stehen, drehte mich ganz herum - und starrte verblüfft ins Leere.

Jennifer war nicht mehr da. Der Gang hinter mir war leer. »Jenny?« rief ich. »Wo bist du?« Ich lauschte einen Moment, aber alles, was ich hörte, war das verzerrte Echo meiner eigenen Stimme und das unablässige Brodeln und Zischen der Lava. »Verdammt noch mal, was soll das?« rief ich, schon ein wenig lauter. »Wir haben keine Zeit für Spielchen!«

Aber es war auch kein Spiel. Jennifer war verschwunden. Entweder zurückgegangen oder - und diese Vermutung lag erstens näher und war zweitens weit unangenehmer - in den anderen Gang hineingegangen, ohne daß ich es bemerkt hatte. Ich schluckte einen Fluch herunter, packte mein Gewehr fester und machte mich mit klopfendem Herzen auf.

Das rote Licht steigerte sich zu einer grellen Lohe, kaum daß ich die Gangbiegung erreicht hatte. Alles, was weiter als zehn oder fünfzehn Schritte vor mir lag, schien in einem Meer roter Helligkeit aufgelöst zu sein wie in brennender Säure. Meine Haut begann zu prickeln. Die Metallteile des Gewehres wurden unerträglich heiß. Für einen Moment steigerte ich mich in die absurde Vorstellung hinein, daß die Hitze so weit ansteigen würde, bis die Munition meiner Waffe explodierte. Ich verscheuchte den Gedanken und ging weiter. Nach einem Dutzend Schritte weitete sich der Gang zu einer gewaltigen, domartigen Höhle, die von wabernder Hitze und dem Zischen und Gluckern weißglühender Lava erfüllt war. Abrupt blieb ich stehen. Direkt vor mir begann eine Art steinerner Brücke, aber ich wagte nicht, sie zu betreten, denn die Lava war so weit in die Höhe gestiegen, daß der Fels nur noch wenige Fingerbreiten aus der kochenden Masse herausragte. Selbst wenn er mein Gewicht noch trug - wovon ich nicht unbedingt überzeugt war -, mußte er glühend heiß sein.

Von Jennifer war keine Spur zu sehen. Aber das war es nicht, was mich so abrupt stehenbleiben ließ. Es war vielmehr der Umstand, daß ich diese Höhle kannte. Ich war schon hiergewesen. Aber damals hatte sie anders ausgesehen, völlig anders. Die zahllosen rechteckigen Lavapfützen, die sich beiderseits des Steinpfades reihten, waren drei Yards tiefe Gruben gewesen, Zellen gleich, in denen Dagon seine unglücklichen Opfer gefangenhielt. Es waren Hunderte gewesen.

Und ich wußte, was sie in lavagefüllte Höllenkessel verwandelt hatte.

Opfer.

Menschenopfer, die dargebracht wurden, damit aus Dagons Dämoneneiern die schrecklichen Ssaddit wurden...

Trotz der unerträglichen Hitze begann ich plötzlich zu frieren. Auch wenn ich unbewußt wohl geahnt haben mochte, was mich erwartete, traf mich der Anblick wie ein Fausthieb. Wie in einer furchtbaren Vision sah ich noch einmal das gewaltige, schwammige Ungeheuer aus dem Meer auftauchen, Dagons Mörderwurm, den er ausgesandt hatte, Opfer für seine gräßlichen Zeremonien zu finden, sah es die wehrlosen Eingeborenen an Land speien, sah Dagons Sklaven die Männer und Frauen mit Peitschenhieben hier hereintreiben.

Ich war zu spät gekommen. Ich wußte nicht einmal, ob ich wirklich hier war, um die Majunde zu retten, oder nur Shannons wegen, aber gleich, was der wahre Grund gewesen sein mochte - ich hatte versagt.

Minutenlang stand ich so da, gelähmt vor ungläubigem Schrecken und Entsetzen, bis es mir gelang, mich wenigstens herumzudrehen. Ich war nicht einmal überrascht, als ich die Gestalt hinter mir erblickte.

»Du hast dich verändert«, sagte ich leise.

»Und du bist ein ebensolcher Narr geblieben, wie du warst«, antwortete Dagon abfällig. Seine riesigen Fischaugen musterten mich kalt, und was ich darin las, hätte mich eigentlich zum Erzittern bringen müssen. Aber ich empfand nichts. Gar nichts mehr. Vielleicht war das, was hier geschehen war, einfach zu schrecklich, als daß ich noch in irgendeiner Form darauf reagieren konnte. Alles, was ich fühlte, war eine tiefe, schmerzende Leere.

»Du hättest nicht herkommen sollen«, fuhr er fort. »Du bist mir einmal entkommen, mit Glück und der Hilfe eines anderen. Ein zweites Mal wird dir das nicht gelingen.«

»Was hast du mit mir vor?« fragte ich. »Brauchst du noch eine Fleischration für deine Bestien?« Ich versuchte, meine Stimme spöttisch klingen zu lassen, aber nicht einmal das gelang mir. Und selbst wenn, hätten die Worte ihre Wirkung auf Dagon verfehlt. Wenn jemals etwas Menschliches in ihm gewesen war, so war es nun verschwunden. Ausgelöscht. Der Dagon, den ich kennengelernt hatte, das Ungeheuer, in dem trotz allem noch ein winziger Funke seiner menschlichen Vorfahren steckte, war tot. Das Wesen, dem ich jetzt gegenüberstand, war eine Bestie.

Dagon antwortete nicht, sondern streckte nur fordernd die Hand aus und deutete auf mein Gewehr. Ich reichte ihm die Waffe. Dagon packte sie, bog ihren Lauf wie ein Stück weiches Bleirohr zusammen und warf sie in die glühende Lava. Die Munition explodierte knallend, und für einen Moment sah ich etwas Riesiges, gleißend Helles unter dem verflüssigten Gestein dahingleiten.

»Komm«, befahl Dagon. Er winkte noch einmal auffordernd mit der Hand, drehte sich herum und verließ die Höhle, ohne sich auch nur mit einem Blick davon zu überzeugen, ob ich ihm wirklich folgte. Aber ich tat es. Wohin hätte ich auch gehen sollen? Ein Fluchtversuch erschien mir unter den gegebenen Umständen das mit Abstand sinnloseste, was ich überhaupt unternehmen könnte.

Nicht, daß es irgend etwas gab, was überhaupt noch Sinn gemacht hätte, jetzt und hier.

Dagon führte mich durch ein wahres Labyrinth von Stollen und Gängen weiter in die Tiefe. Nicht alle davon waren auf natürlichem Wege entstanden; manche wirkten so glatt wie poliertes Glas, daß ich Mühe hatte, überhaupt auf den Beinen zu bleiben; gewaltige Röhren wie in den Fels hineingebrannt. Das mußten die Gänge sein, die Dagons schreckliche Feuerwürmer hinterlassen hatten.

Nach einer Ewigkeit wurde es vor uns wieder hell, aber diesmal war es nicht das düstere Blutlicht der glühenden Lava, sondern ein grünlicher, fast milder Schein, der nicht aus einer bestimmten Quelle, sondern von überallher zugleich zu kommen schien, als leuchte die Luft selbst. Eine kurze, aus roh behauenen Steinstufen bestehende Treppe führte in die Tiefe - und endete im Nichts.

Hätte Dagon mich nicht an der Schulter gepackt und aufgehalten, dann hätte ich es vielleicht nicht einmal bemerkt, so abrupt brach die Konstruktion aus verwitterter Lava ab. Unter er letzten Stufe gähnte ein gut fünfzig Fuß tiefer Abgrund, unter dem die Höllenglut eines Lavasees loderte. Dagons Fischlippen verzogen sich zu einem häßlichen Lachen. »Siehst du, jetzt habe ich dir schon wieder das Leben gerettet«, sagte er.

Irgend etwas an der Art, in der er die Worte aussprach, ließ mich aufsehen. Seine Stimme hatte sich verändert. Sie hatte nie wirklich menschlich geklungen, aber jetzt war ein schreckliches, hechelndes Pfeifen darin, begleitet von einer Art unheimlichem Echo. Als redeten zwei Menschen gleichzeitig. Und plötzlich fielen mir noch mehr Veränderungen auf: Dagons Gesicht war dunkler geworden. Die filigranen Silberschuppen hatten ihren Glanz verloren und waren matt geworden, und darunter zeichneten sich haardünne, dunkle Linien ab.

Als wäre diese Beobachtung ein Stein gewesen, der andere mitriß, fielen mir plötzlich mehr und mehr Unterschiede zu dem Dagon auf, dessen Bild ich in meiner Erinnerung hatte. Er trug einen schwarzen, vom Hals bis über die Knöchel reichenden Umhang, der keinen Quadratzoll seines Körpers unbedeckt ließ. Und plötzlich wurde mir klar, daß es zu keinem anderen Zweck diente, als die Gestalt darunter vor neugierigen Blicken zu verbergen. Dagons Körper schien mir auf sonderbare Weise verschoben, beinahe mißgestaltet. Mein Blick war Dagon keineswegs entgangen, denn plötzlich trat ein Ausdruck von Zorn in seine Augen; er packte mich, riß mich grob an der Schulter herum und trat mit einem einzigen Schritt in das Nichts jenseits der Treppe hinaus.