Aber wir stürzten nicht. Wie von einer unsichtbaren Hand gehalten, schwebten wir ein Stück weit in die Höhle hinein, glitten in sanftem Bogen über den Lavasee hinweg und setzten in sicherer Entfernung auf; sanft wie fallende Blätter. Trotzdem strauchelte ich und wäre um ein Haar gestürzt, als Dagon meine Schultern losließ, denn der Schrecken hatte mich erstarren lassen, und ich stand noch immer in der gleichen, unnatürlich verkrampften Haltung da, in der Dagon mich von der Treppe gezerrt hatte. Erst jetzt bemerkte ich überhaupt, daß ich vor lauter Schrecken den Atem angehalten hatte. Dagon musterte mich kalt. »Du bist ein verdammter Narr, hierherzukommen«, sagte er. »Warum hast du nicht dein Schiff bestiegen und bist davongefahren? Jetzt stirbst du.«
Ich antwortete nicht, obwohl ich für einen Moment das sichere Gefühl hatte, daß Dagons Worte einem ganz bestimmten Zweck dienten. Fast kam es mir vor, als wolle er mir irgend etwas mitteilen, etwas Bestimmtes, das er aus irgendeinem Grund nicht klar auszudrücken wagte.
Hinter mir waren Schritte. Ich drehte mich herum, darauf gefaßt, eine von Dagons Kreaturen zu gewahren, einen der fürchterlichen Knochenmänner, vielleicht auch einen seiner lebenden Sklaven.
Aber es war keines von beiden. Hinter mir stand ein hochgewachsener, ganz in mattes Schwarz gekleideter Mann, dessen wasserklare Augen mich mit erbarmungsloser Härte anblickten.
»Ich kann dir sagen, warum er gekommen ist, Dagon«, sagte Shannon kalt. »Meinetwegen. Dieser romantische Narr ist hier, weil er glaubt, mir helfen zu müssen.« Er lachte, ein Laut, der mir einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ.
»Helfen«, sagte er noch einmal und bog sich vor Lachen.
Einen Moment lang blickte ich ihn an, dann wieder Dagon, dann noch einmal Shannon, und für einen ganz kurzen Augenblick wußte ich nicht einmal, vor wem ich mehr Angst hatte - vor Dagon, der nun auch körperlich zu dem Ungeheuer zu werden begann, das er schon immer gewesen war, oder vor Shannon, der äußerlich unverändert schien, in Wahrheit aber vielleicht das größere Ungeheuer war.
»Ich dachte einmal, wir wären Freunde«, sagte ich leise.
»Freunde?« Shannon runzelte die Stirn, als müsse er ernsthaft über die Bedeutung dieses Wortes nachdenken. Dann nickte er.
»O ja«, sagte er. »Freunde, sicher. Natürlich sind wir das. Und aus diesem Grunde werde ich dir auch einen letzten Freundschaftsdienst erweisen, Robert. Du wirst von meiner Hand sterben. Ganz freundschaftlich.«
Harmfelds Händedruck war kräftig und so warm wie das rote Licht der Sonne, die vor ein paar Minuten begonnen hatte, über den Horizont zu steigen. Howard wollte etwas sagen, irgendwelche Worte, die ihm passend erschienen, Worte, die Harmfeld klarmachten, daß er längst mehr als ein zufälliger Bekannter für ihn geworden war, mehr als jemand, mit dem er eine Weile aus der Not heraus zusammengearbeitet hatte, aber wie immer in solchen Augenblicken fand er einfach nicht die passenden Worte. Vielleicht war es auch gar nicht nötig. Auch Harmfeld wirkte irgendwie betreten; vermutlich ging es ihm nicht anders als Howard und Nemo. Sie waren alle keine Männer großer Worte.
»Sie sollten gehen, Kapitän«, sagte Nemo schließlich. »Zwölf Stunden sind nicht viel Zeit, um aus dem Gefahrenbereich herauszukommen.«
Plötzlich mußte Howard sich mit aller Gewalt beherrschen, um Harmfeld nicht einfach die Wahrheit zu erzählen - nämlich, daß dies alles hier schon geschehen war, und daß es im Grunde völlig gleich blieb, was sie taten oder nicht. Aber natürlich tat er es nicht.
Statt dessen lächelte er Harmfeld noch einmal zum Abschied zu und trat ein Stück zurück, damit er bequem in das Boot umsteigen konnte, das am stählernen Rumpf der NAUTILUS festgemacht hatte. Schweigend sahen sie zu, wie er ablegte und auf die Zuidermaar zuhielt, die bereits Segel gesetzt hatte und bereit zum Auslaufen war.
»Wird er es schaffen?« fragte Nemo plötzlich.
Die Wahrheit war: Howard wußte es nicht. Er hatte viel über den Ausbruch des Krakatau gelesen und gehört, aber in keinem der Berichte war der Name der Zuidermaar erwähnt worden. Was auf der anderen Seite auch nicht hieß, daß sie es nicht geschafft hatte.
»Ja«, sagte er schließlich. Es war gelogen, und Nemo mußte es spüren, aber sie beließen es beide dabei.
»Du... solltest auch allmählich an die Abreise denken«, sagte Howard nach einer Weile.
Nemo wandte sich nicht zu ihm um, sondern sah weiter dem kleiner werdenden Ruderboot mit Harmfeld nach.
»So schnell ist die NAUTILUS nun auch wieder nicht«, fuhr Howard fort. »Und die Schockwelle wird unter Wasser noch schlimmer als hier oben. Dir bleibt nicht mehr viel Zeit.«
»Robert ist noch nicht zurück«, sagte Nemo leise. Er sah Howard noch immer nicht an.
»Du willst... warten?« murmelte Howard.
»Würdest du das nicht?«
»Das ist etwas anderes«, antwortete Howard. »Robert und ich sind...«
»Freunde?« unterbrach ihn Nemo.
»Ja.«
»Siehst du?« Endlich drehte sich der Kapitän der NAUTILUS herum und sah Howard an. Er lächelte, aber sein Blick blieb ernst. »Wir warten«, sagte er noch einmal. »Noch ist ein wenig Zeit. Nicht mehr viel, aber genug.«
»Ich hoffe es«, flüsterte Howard schaudernd. »Bei Gott, ich hoffe es.«
Nemo schwieg. Wortlos standen sie nebeneinander und blickten zur Silhouette des Berges hinauf, die im ersten Licht der Morgensonne wie ein blutrotes Fanal aufleuchtete. Ein leises Grollen drang zu ihnen.
Leise. Aber sehr, sehr drohend.
Der Raum war klein und würfelförmig. Die einzige Öffnung bestand aus einem gezackten Lock, drei Yards hoch unter der Decke und unerreichbar. Der Fels war so heiß, daß es mir unmöglich war, stillzustehen oder mich gar zu setzen. Selbst das Atmen bereitete mir Schmerzen. Der Boden unter meinen Füßen zitterte ununterbrochen, und in unregelmäßigen Abständen drang ein tiefes, irgendwie schmerzhaft klingendes Stöhnen aus der Erde.
Ich wußte nicht, wie lange ich schon hier war: eine Stunde, zwei, vielleicht länger. Ich hatte tausend Fluchtpläne ersonnen und ebenso schnell wieder verworfen, Shannon und Dagon und vor allem mich selbst immer und immer wieder verflucht, daß ich so dumm gewesen war, hierherzukommen. Jetzt war ich der Verzweiflung nahe. Das Geräusch von schleifenden Schritten drang in meine Gedanken und ließ mich aufsehen. Ich hob den Kopf und gewahrte einen finsteren, irgendwie verzerrt wirkenden Schatten, den ich erst als Dagon erkannte, als er den Kopf bewegte und sich das rote Licht in seinen riesigen Fischaugen brach.
Er sagte kein Wort, sondern hob nur die Hand unter seinem Umhang hervor und machte eine knappe, befehlende Geste. Wie schon einmal, fühlte ich mich von einer unsichtbaren Kraft ergriffen und sanft in die Höhe gehoben. Shannon war bei ihm, stand aber in einiger Entfernung und so, daß er Dagon und mich gleichzeitig im Blick behalten konnte. Seine Augen waren kalt, und wie Dagon kam er mir irgendwie verändert vor, ohne daß ich das Gefühl im Moment in Worte zu kleiden vermochte.
»Es ist soweit«, sagte er kalt. »Komm.«
Der Griff von Dagons unsichtbarer Hand war erloschen, aber ich machte trotzdem keinen Versuch, mich zu widersetzen. Es wäre ziemlich sinnlos gewesen. Sowohl Dagon als auch Shannon waren mir haushoch überlegen. Schweigend folgte ich ihnen bis in eine große, wie alles hier unten von blutigrotem Lavalicht erhellte Höhle. Eine ihrer Wände war durch einen schillernden Wall aus Wasser ersetzt worden - der Zugang zum Ozean, durch magische Kräfte gebändigt und zurückgedrängt.
Aber ich achtete nicht sonderlich darauf, sondern blickte wie gebannt auf einen gewaltigen Block aus schwarzem Basalt, der genau im Zentrum des steinernen Domes aufgestellt worden war.