Genauer gesagt, auf die schimmernde Kugel aus rauchfarbenem Kristall, die wenige Inches über seiner glattpolierten Oberfläche schwebte...
Und im selben Moment, in dem ich sie sah, wußte ich, was ich vor mir hatte.
Shannon fuhr zusammen wie unter einem Peitschenhieb, blickte mich einen Herzschlag lang aus schreckgeweiteten Augen an und verzog die Lippen zu einem stummen Flehen, und ich begriff, daß er meine Gedanken gelesen hatte.
Nicht, flüsterte eine Stimme in meinen Gedanken. Sag es nicht, Robert!
Verwirrt blickte ich zwischen ihm und Dagon hin und her. Ein plötzlicher, furchtbarer Verdacht begann in meinen Gedanken Gestalt anzunehmen, aber er war einfach zu bizarr, um wahr zu sein.
Und trotzdem sagte mir Shannons Blick, daß es ganz genau so war. Die raucherfüllte Kristallkugel, das Zentrum und der Quelle von Dagons Macht, war nichts anderes als das zweite der SIEBEN SIEGEL DER MACHT, und wie auf der Dagon, dem bizarren Dimensionsschiff, auf dem ich Shannon zum ersten Male wiederbegegnet war, war er auch jetzt nur hier, um es in seinen Besitz zu bringen!
Mit einem Ruck blieb ich stehen, drehte mich zu Dagon um und deutete anklagend auf Shannon.
»Er betrügt dich, Dagon«, sagte ich.
Dagon erstarrte. In seinen riesigen Fischaugen entstand ein mißtrauisches Glitzern. »Wie meinst du das?« fragte er. »Er steht nicht auf deiner Seite«, sagte ich, Shannons verzweifelte Blicke ignorierend. »Er ist hier, um das SIEGEL zu stehlen. Necron hat ihn geschickt.«
Dagon atmete hörbar ein, blickte kurz zu Shannon zurück und sah dann lange und sehr nachdenklich auf den gewaltigen Basaltblock und die schwebende Kugel. Aber seine Reaktion war ganz anders, als ich mir erhofft hatte.
»Ich weiß«, sagte er. »Aber es erstaunt mich ein wenig, daß du ihn verrätst, wo du doch damit rechnen mußt, daß ich ihn töte. Dieser Mann und du, ihr seid doch Freunde.«
»Außerdem hast du nur zum Teil recht, du Narr«, sagte Shannon kalt.
Der Klang seiner Stimme ließ etwas in mir erstarren.
Es war nicht mehr seine Stimme, sondern die Stimme eines alten, böse und hart gewordenen Mannes.
So, wie das Gesicht unter dem schwarzen Turban nicht mehr länger Shannons Gesicht war, sondern das Gesicht eines Greises, eingefallen und faltig, mit einer charfen Adlernase, dünnen, grausamen Lippen und Augen, die so tief in ihre Höhlen zurückgekrochen waren, daß sie wie finstere Löcher in dem pergamenthäutigen Totenschädel wirkten. »Necron!« flüsterte ich entsetzt.
»Es ehrt mich, daß du mich wiedererkennst, nach all der Zeit«, sagte Necron. »Vor allem, wo wir uns nur einmal begegnet sind. Aber ich nehme an, du erinnerst dich so gut daran wie ich. Du hattest mich damals... getötet.«
Ich wollte antworten, aber ich konnte es nicht. Ein Haß von solcher Stärke, daß ich selbst davor erschrak, stieg in mir empor, ein Gefühl, wie ich es noch nie zuvor erlebt hatte. Meine Hände fingen an zu zittern. Etwas begann sich in mir zu regen, etwas Dunkles und Böses, etwas, dessen Dasein ich geahnt, das ich aber bisher immer mit aller Macht bekämpft und niedergehalten hatte.
Jetzt konnte ich es nicht mehr. Der Anblick dieses zerfurchten, unendlich bösen Greisengesichts ließ irgend etwas in mir zerbrechen.
Ich stand Necron gegenüber!
Dem Mann, der mir den einzigen Menschen genommen hatte, den ich jemals geliebt hatte. Dem Mann, der meine Freunde dazu gebracht hatte, mich zu hassen. Der mit Menschenleben spielte wie mit Schachfiguren, gnadenlos und berechnend.
»Du«, flüsterte ich heiser. »Du warst... du... du warst Shannon! Du warst die ganze Zeit...«
»Aber nein«, unterbrach mich Necron kichernd. »Damals auf dem Schiff, das war wirklich Shannon. Ich gebe zu, ihn einmal selbst geschickt zu haben. Ein Fehler, wie ich leider zu spät bemerkte. Es war sein Auftrag, dich zu töten, Er hat versagt.«
Er lächelte. »Ein zweites Mal wird das nicht geschehen, mein Wort darauf.«
»Du Ungeheuer«, flüsterte ich. »Du verdammtes...«
Necron hob die Hand, und eine unsichtbare Faust traf mich am Mund und ließ mich zurückstolpern. Ich prallte gegen Dagon, verlor das Gleichgewicht und klammerte mich instinktiv an seinem Umhang fest. Der Fischgott schrie auf, gab mir einen Stoß vor die Brust und sprang hastig zurück. Ich fiel, aber meine Hände hielten den schwarzen Stoff fest umklammert, und als ich stürzte, wurde der Umhang von seinen Schultern gerissen.
Der Anblick ließ mich erstarren.
Plötzlich begriff ich, warum Dagon selbst hier, wo er allein war, diesen Umhang getragen hatte.
Er war nicht mehr das Wesen, als das ich ihn kennengelernt hatte. Sein Gesicht und ein Teil - nur ein Teil - seines Oberkörpers hatten noch vage Ähnlichkeit mit dem Dagon, den ich kannte, aber darunter...
Darunter begann ein Alptraum aus schwarzem Fleisch. Dagons Leib war zu einem gräßlichen, unförmig aufgedunsenen Balg geworden, ein pumpendes schwarzes Ding aus nässendem Fleisch. Schwarzblaue Adern spannten sich über seinem Leib, und hier und da wuchsen dicke, knotige Dinge aus der zerborstenen Haut. Seine Arme waren groteske Bündel aus miteinander verwachsenen Schlangen, von denen jede einzelne von schrecklichem Eigenleben erfüllt war. Ein Paar plumper, säulenförmiger Beine, die in unförmigen Klauenfüßen endeten, trugen die alptraumhafte Erscheinung, und aus seinem Rücken begann etwas herauszuwachsen, das mich an verstümmelte Flügel erinnerte.
Eine Sekunde lang stand Dagon wie versteinert da, dann stieß er einen Schrei aus, bückte sich zu mir und riß mir den Mantel aus den Händen, um ihn sich hastig wieder überzustreifen.
»Das ist es also«, murmelte ich. »Das ist der Grund, aus dem du all das getan hast.«
»Schweig!« schrie Dagon.
»Du wirst zu einem der Ihren«, sagte ich. »Sie verändern dich.«
»Das wird er nicht«, sagte Necron, eine Spur zu schnell, wie mir schien. »Ich werde es verhindern.«
»Du?« Ich stemmte mich hoch, blickte Dagon an und wandte mich dann wieder an Necron. »Ist es das, was du ihm angeboten hast, als Preis für das SIEGEL?«
Necron nickte, und ich begann leise - und so böse, wie ich nur konnte - zu lachen.
»Und das glaubst du?« fragte ich, an Dagon gewandt. »Er ist hierhergekommen und verlangt das SIEGEL, als Preis für deine Rettung?«
»Schweig, Craven, oder ich töte dich gleich hier«, sagte Necron wütend.
Aber ich schwieg nicht, sondern fuhr im Gegenteil mit erhobener Stimme fort: »Weißt du nicht, wer dieser Mann ist, Dagon?«
»Du sollst schweigen!« befahl Necron. Seine Rechte hob sich, und wieder spürte ich das Heranrasen unsichtbarer magischer Energien.
Aber diesmal traf mich der Hieb nicht unvorbereitet. Er war zehnmal so hart wie der erste, aber ich wußte nun, wem ich gegenüberstand, und hatte keine Skrupel mehr, mit gleicher Münze heimzuzahlen. Ich blockte den magischen Hieb ab, sprang blitzschnell zurück, bis ich mit dem Rücken gegen den Basaltbrocken gelehnt dastand, und tat so, als krümmte ich mich vor Schmerz. Meine Rechte näherte sich Inch für Inch der schwebenden Kristallkugel.
»Das nutzt dir nichts, Necron«, stöhnte ich in gespieltem Schmerz. »Du kannst mich umbringen, aber dein Plan wird nicht aufgehen.«
Necron fauchte vor Wut wie eine Katze, der man versehentlich auf den Schwanz tritt, ballte die Hände zur Fäusten und holte zu einem weiteren, noch mächtigeren magischen Hieb aus.
Er kam nicht dazu, die Bewegung zu Ende zu führen. Meine Hand hatte das SIEGEL erreicht, und meine Fingerspitzen berührten den glatten Kristall der Kugel.
Der Effekt war genau der, den ich mir erhofft hatte.
Nur ungefähr hundertmal so stark.
Ein sengender Blitz schien in mein Gehirn zu fahren. Ich keuchte vor Überraschung und Schmerz, ließ die Kugel aber nicht los, sondern hielt sie weiter und mit aller Kraft fest und versuchte an nichts anderes zu denken als an die ungeheuren magischen Energien, die aus der schimmernden Kugel in mein Gehirn fluteten, ergriff den Strom sengender Macht und lenkte ihn um, bändigte die tobende Springflut purer Macht, ganz genau so, wie es mir Shannon gezeigt hatte vor so langer Zeit - und schleuderte sie mit aller Gewalt gegen Necron.