Der Körper des greisen Magiers schien von einem unsichtbaren Hammerschlag getroffen zu werden. Er wurde mehrere Yards weit in die Luft geschleudert. Hellblaue, tausendfach verästelte Blitze zuckten aus meinen Fingerspitzen und schlugen krachend in seinen Leib. Ich sah, wie meine Nägel schwarz wurden und die Haut an meinen Fingerspitzen verkohlte, aber ich spürte nicht den mindesten Schmerz, nicht einmal Wärme.
Necron schrie und brüllte wie von Sinnen, aber ich gab ihm keine Chance. Immer und immer wieder trafen die dünnen Blitze den greisen Magier, bis er sich schreiend auf dem Boden wälzte.
»Dieser Mann ist nicht dein Verbündeter, Dagon«, sagte ich kalt. »Er wird dich betrügen. Dieser Mann ist kein Feind der GROSSEN ALTEN, sondern ihr treuester Verbündeter. Der Mann, den sie auserwählt haben, ihre Rückkehr auf die Erde vorzubereiten.«
»Ich weiß«, sagte Dagon ruhig.
Dann schlug er mir eine seiner deformierten Klauenhände mit solcher Wucht in den Nacken, daß ich bewußtlos zu Boden stürzte.
Jennifer preßte sich so dicht gegen den Fels, daß ihr Schatten mit dem Schwarzgrau der erstarrten Lava zu verschmelzen schien. Der Stein war heiß; der dünne Stoff ihres Kleides begann sich braun zu verfärben, und die Haut darunter schlug Blasen. Trotzdem kam nicht der mindeste Schmerzlaut über ihre Lippen.
Jennifer beobachtete mit angehaltenem Atem, wie Robert Craven bewußtlos zusammenbrach. Der Anblick erfüllte sie mit Schrecken, Sie hätte viel darum gegeben, hätte sie gehört, was er und Dagon gerade besprochen hatten.
Aber sie hatte es nicht riskieren können, noch näher heranzugehen. Schon daß sie so weit in das Labyrinth unter dem Krakatau vorgedrungen war, ohne entdeckt zu werden, glich einem Wunder (zugegeben, sie hatte diesem Wunder ein wenig nachgeholfen), aber sie wußte auch, daß sie ihr Glück nicht über die Maßen strapazieren durfte.
Was nicht hieß, daß sie tatenlos dastehen und zusehen würde, was weiter geschah. O nein, ganz bestimmt nicht. Sie wartete auf einen Augenblick, in dem die beiden Gestalten nicht in ihre Richtung blickten, dann löste sie sich aus der Nische, in der sie sich verborgen gehalten und zugesehen hatte, und huschte näher heran. Lautlos wie ein Schatten. Necron spuckte mich an. Während der letzten Minuten - seit er mich mit einem Fußtritt aus meiner Bewußtlosigkeit geweckt hatte - hatte er nichts anderes getan, als mich zu beschimpfen und abwechselnd zu treten und zu schlagen, bis Dagon ihn reichlich grob zurückgezerrt hatte. Der Herr der Drachenburg tobte vor Zorn. Sein Gesicht war verzerrt, und auf seiner faltigen Totenhaut waren große, rotleuchtende Brandblasen erschienen. Seine Hände waren blutig.
»Du Hund!« kreischte er. »Dafür stirbst du tausend Tode, das schwöre ich! Ich werde dich vernichten! Tausend Jahre sollst du in der Dschehenna brennen, bis du mich um deinen Tod anwinselst, du verfluchter Christenhund!«
Ich richtete mich mühsam auf, blinzelte die blutigen Schleier fort, die vor meinem Blick auf und ab wogten, und versuchte zu lachen, aber alles, was ich herausbekam, war ein gequälter Laut, der sich wohl eher wie ein Husten anhörte. Necron keuchte und wollte sich schon wieder aufmich stürzen, aber Dagon hielt ihn zurück, packte ihn grob bei den Schultern und schüttelte ihn.
»Hör jetzt auf, Necron!« befahl er. »Wir haben Wichtigeres zu tun! Der Augenblick ist da!«
Necron beruhigte sich tatsächlich, aber der Blick, den er mir zuwarf, schien vor Haß zu brennen.
Trotzdem sagte er nichts mehr, sondern folgte Dagon, bis sie vor dem Basaltblock standen, über dem das SIEGEL schwebte. Ich richtete mich vollends auf, wischte mir mit dem Arm das gröbste Blut aus dem Gesicht und machte ein paar Schritte in ihre Richtung, bis Dagon aufsah und drohend die Hand hob. Aber ich war auch so nahe genug, zu erkennen, was vorging.
Die blitzende Kristallkugel war höher gestiegen, bis sie schwerelos in gleicher Höhe mit Dagons und Necrons Gesichtern schwebte. Und sie schien auf geheimnisvolle Weise gewachsen zu sein, denn sie hatte jetzt die Größe eines Balles, nicht mehr einer Kinderfaust. Die Schatten in ihrem Inneren begannen stärker zu wogen, wirbelten wie vom Sturm gepeitscht durcheinander und bildeten vergängliche Umrisse und Schemen.
Plötzlich lief ein krampfhaftes Zucken durch die Kugel. Die Schatten verblaßten und machten einem strahlenden, giftgrünen Licht Platz, das heller und immer heller wurde, bis sich selbst Dagon und Necron stöhnend abwandten und die Arme vor die Gesichter hoben.
Der Ball aus blendendem Licht wuchs weiter, und dann erschien in seinem Inneren ein winziger dunkler Fleck, weitete sich rasend schnell aus und griff mit rauchigen Armen um sich wie ein Tornado. In Sekunden verschlang er die Lichtkugel.
Irgend etwas klirrte, und ich sah, wie das SIEGEL, wieder zu seiner ursprünglichen Größe zusammengeschrumpft und zu einer toten Kugel aus Glas erloschen, auf den Block herabfiel, ein Stück zur Seite rollte und dann liegenblieb. Aber der schwarze Wirbel war noch immer da, und er wuchs weiter, wenn auch nicht mehr so rasch wie zuvor.
Und in seinem Inneren war irgend etwas, das dunkler war als dunkel, schwärzer als schwarz, groß und mächtig und böse... böse... böse...
Ein dumpfer Schlag ließ den Boden erzittern. Irgendwo, unendlich tief unter mir, schien die Erde zu zerbersten, und plötzlich erschütterten ein zweiter, dritter und vierter Schlag den Boden. Die Höhle bebte. Steine krachten von der Decke, zerbarsten auf dem Boden oder klatschten in die flüssige, hoch aufspritzende Lava.
Ein Schrei erklang; ein Schrei von solcher Urgewalt und Wut, daß ich auf die Knie fiel und die Hände gegen die Schläfen preßte. Aber es nutzte nichts, ich hörte den Schrei noch immer, deutlicher und schriller als zuvor. Und dann begann diese schreckliche, unmenschlich kreischende Stimme Worte hervorzustoßen, zwei Worte, immer und immer und immer wieder nur diese beiden, fürchterlichen Worte.
»THUL!« schrie die Stimme. »THUUUUL! THUL SADUUN! THUL SADUUN!«
Etwas Dunkles begann aus der geronnenen Schwärze emporzukriechen, etwas wie ein Wurm, sich windend, gigantisch und furchteinflößend, glitzernd wie lebender Stahl und augenlos, ein Alptraum, dessen bloßer Anblick genügen mußte, mich in den Wahnsinn zu treiben, wenn er erst ganz materialisiert war. Tastend und zitternd wie ein blinder Arm griff er hinaus in die Wirklichkeit, zog sich wieder ein Stück zurück und griff abermals hinaus, wurde massiver, größer... Der Gedanke traf mich wie ein Fausthieb. Dieses Ungeheuer war ein THUL SADUUN!
»Nein«, flüsterte ich entsetzt. »Das... das kannst du nicht tun, Dagon!«
Obwohl ich sehr leise gesprochen hatte, mußte Dagon meine Worte gehört haben, denn er fuhr plötzlich herum und starrte auf mich herab. »Ich muß!« keuchte er. Es klang fast wie eine Entschuldigung. »Ich muß, wenn ich nicht so werden soll wie sie!«
Aus dem schwarzen Wirbel erklang ein Schrei, und Dagon fuhr wieder herum. Die gewaltige, wurmähnliche Kreatur hatte sich wieder zurückgezogen und war nurmehr als bloßer Schatten zu erkennen, aber ich sah, daß sie sich wie in irrer Wut hin und her warf, mit ungeheuerlicher Kraft an den Wänden ihres unsichtbaren Gefängnisses zerrend, und trotz allem zu schwach, es zu zerbrechen.
»Etwas fehlt!« sagte Necron. Er richtete sich auf, starrte wild in die Runde - und deutete mit einer zornigen Bewegung auf mich.