Dummerweise begriff Dagon das auch - und leider einen winzigen Moment vor mir.
Mit einem urgewaltigen Brüllen stürzte er los, schwang seine deformierten Klauen und fegte mich mit einer fast beiläufigen Bewegung zur Seite. Ich versuchte, den Hieb abzufangen, aber alles, was ich erreichte, war, daß mir der Schlag nicht gleich sämtliche Knochen im Leib brach, sondern mich nur zu Boden schleuderte und hilflos durch die halbe Höhle rutschen ließ. Wie von weit, weit her hörte ich Dagons Wutschrei; und noch einen anderen, unheimlicheren Laut, den ich nicht einordnen konnte.
Mühsam setzte ich mich auf, versuchte die Benommenheit abzuschütteln und schmeckte mein eigenes Blut. Ich konnte kaum noch richtig sehen. Selbst dieser nur mit einem Bruchteil seiner wirklichen Kraft geführte Hieb hatte ausgereicht, mich um ein Haar umzubringen.
Wie durch einen Nebelschleier sah ich, wie sich Dagon auf den Unaussprechlichen zu stürzen versuchte. Der Unheimliche machte eine Bewegung, die zu schnell war, als daß ich sie erkennen konnte - aber Dagon spürte sie. Etwas traf ihn und ließ ihn fast genausoweit und hilflos zurücktaumeln wie mich zuvor.
Leider war der Bursche ein wenig härter im Nehmen als ich. Er taumelte, fiel auf die Knie (oder das, was er dafür hielt), und stemmte sich mit einem tierischen Knurren sofort wieder in die Höhe, um erneut auf den Unaussprechlichen einzudringen. Wieder wurde er zurückgeschleudert, aber mir fiel auch auf, daß der Hieb nicht mehr so hart war wie der erste. Offensichtlich ließen die Kräfte meines Verbündeten rasch nach.
Etwas in mir warnte mich, es zu tun - aber es war noch nie meine Art gewesen, in Momenten wie diesem vernünftig zu sein. Ich sprang hoch, stürmte auf Dagon los - und fing mir eine Maulschelle ein, die mich diesmal wirklich für Sekunden das Bewußtsein verlieren ließ.
Dagon und ich kamen im selben Moment wieder auf die Füße. Ich taumelte, und auch Dagon bewegte sich nicht mehr so schnell und kraftvoll wie bisher. Er war angeschlagen - aber keineswegs besiegt.
Wieder drang er auf den Unaussprechlichen ein, und diesmal erreichte er ihn. Seine Klauen hinterließen eine tiefe blutige Spur im Rücken des Wesens, ehe ihn ein fürchterlicher Hieb traf und erneut zu Boden schleuderte. Dagon schrie vor Schmerz - aber auch sein Gegner wankte. Und mit ihm die Wasserwand.
Aus Dagons Wutschreien wurde ein triumphierendes Kreischen, als er begriff, daß die Kräfte seines Gegners nicht ausreichten, ihn zu besiegen und gleichzeitig den Zauber aufrechtzuerhalten, der das Wasser bändigte. Ich sah, wie sich seine mächtigen Muskelstränge spannten, als er sich zum letzten Mal mit emem gewaltigen Satz auf seinen Gegner warf. Und ich mich auf ihn.
Der Unaussprechliche drehte sich im gleichen Moment herum, in dem wir in der Luft zusammenprallten. Dagons Klauen verfehlten meinen Schädel um Haaresbreite und fuhren mit furchtbarer Gewalt auf meine Schultern nieder, ein Hieb, der meinen Körper nahezu lahmte und mir die Tränen in die Augen trieb. Der Griff, mit dem ich ihn zu packen und niederzuringen gedacht hatte, erschlaffte.
Aber die pure Wucht meines Anpralles ließ ihn zurücktaumeln. Eine halbe Sekunde lang stand er mit wild rudernden Armen da. Während ich hilflos zu Boden stürzte, sah ich, wie auch er das Gleichgewicht verlor und nach hinten fiel.
Direkt in einen der nadelspitzen Speere aus erstarrtem Wasser hinein.
Er keuchte. Seine Augen wurden groß vor Schmerz, dann trübten sie sich, und ich konnte sehen, wie alles Leben aus ihm wich. Wäre die Situation nicht so entsetzlich gewesen, so wäre mir in diesem Moment vielleicht die Ironie des Schicksals zu Bewußtsein gekommen: Dagon, der Gott des Meeres, ein Geschöpf, dessen Element das Wasser war - durch Wasser getötet...
»Geh, Robert«, sagte der Unaussprechliche mit leiser Stimme. Ich sah auf - und erschrak erneut, als ich in sein Gesicht blickte. Es war verzerrt vor Anstrengung. Seine Hände, die in einer befehlenden Geste ausgestreckt waren, zitterten.
»Geh« sagte er noch einmal. »Schnell. Ich... kann es nicht mehr lange halten. Selbst meinen Kräften sind Grenzen gesetzt. Geh und bring dich in Sicherheit. Es ist noch nicht zu spät.«
»Und... die THUL SADUUN?« fragte ich zögernd.
»Sie werden untergehen«, antwortete das Wesen. »Sie werden zusammen mit diesem Berg sterben, in einer gewaltigen Explosion. Geh. Ich versuche, es aufzuhalten, so lange ich kann, aber es wird nicht sehr lange sein. Geh!«
Und obwohl ich wußte, daß jede weitere Sekunde des Zögerns über meinen Tod oder mein Weiterleben entscheiden konnte, verharrte ich noch einen letzten Moment reglos neben dem riesigen fremdartigen Wesen. Es war mir plötzlich nicht mehr möglich, es als einen Feind zu sehen, der nur eine Art Burgfrieden mit mir geschlossen hatte. Und plötzlich wußte ich, daß er das auch niemals gewesen war. Ich wünschte ihm, daß er es schaffen würde, lebend hier herauszukommen; irgendwie.
Dann fuhr ich herum und machte mich auf den schweren, entsetzlich langen Weg, der vor mir lag.
Über der Insel brannte der Himmel. Tiefhängende, von glühender Vulkanasche blutrot gefärbte Wolken brodelten wie kochender Nebel dicht über den Wipfeln der Urwaldriesen. In fast regelmäßigen Abständen erzitterte die Erde wie unter dem Tritt eines unsichtbaren Giganten, und manchmal zerrissen grelle Blitze die dräuenden Wolken. Das Meer, das nur manchmal hinter diesem Vorhang aus Chaos sichtbar wurde, schien zu kochen, und etwas, das wie Nebel aussah, stieg von seiner Oberfläche auf und verband sich mit den Wolken.
Mehr als zwei Stunden war ich gelaufen, um die Küste zu erreichen, immer in Gefahr, von stürzenden Bäumen oder herunterprasselndem Geäste erschlagen zu werden, in jäh aufklaffende Erdspalten zu stürzen oder von einem der glühenden Brocken getroffen zu werden, die wie brennende Meteore aus den Wolken niederregneten.
Die Insel starb einen langsamen, qualvollen Tod. Krakatau, der Gott der Majunde, hatte seine schreckliche Stimme erhoben, und mit jedem Schrei des Vulkans kam das Ende näher. Das Chaos hatte seine Hand nach Krakatau ausgestreckt, und sein Griff war fürchterlich.
Ich erreichte den Waldrand, lehnte mich gegen einen Baum, der mir massiv genug erschien, nicht beim nächsten Erdstoß umzukippen und mich unter sich zu begraben, und rang einen Moment keuchend nach Atem. Meine Lungen brannten. Die Luft schmeckte bitter und heiß, und die schwarze Lavaasche tanzte wie finsterer Regen vor mir auf und ab. Alles, was ich anfaßte, fühlte sich heiß und schmierig an. Der Dschungel dampfte, und immer wieder flackerten kleinere Brände auf. Die meisten erloschen sofort wieder, denn Krakatau war von einem tropischen Regenwald bedeckt, der mit Feuchtigkeit vollgesogen war wie ein großer grüner Schwamm. Aber wenn die Hitze weiter so anstieg, dann würde es nicht mehr lange dauern, bis die ganze Insel wie eine gigantische Fackel in Flammen aufging; lange, bevor der Krakatau eruptierte.
Ich versuchte, den Gedanken zu verscheuchen, atmete tief ein und lief weiter. Die Sonne war vor vier Stunden aufgegangen, und wenn Howard seine Drohung wahrgemacht hatte, dann würde ich den Strand leer vorfinden. Die Frist, in der er auf mich warten wollte, war abgelaufen. Aber irgendwie konnte ich nicht so recht daran glauben, daß er mich im Stich lassen würde. Vielleicht wollte ich es auch nicht.
Die letzten Bäume wichen zur Seite, als ich rücksichtslos durch das Unterholz brach, und dann lag die Stadt vor mir - oder das, was davon übriggeblieben war. Der Feuerregen und die unablässigen Erdstöße hatten das, was der Brand übersehen hatte, endgültig vernichtet. Der Ort lag in Trümmern. Überall qualmte und brannte es, und quer über die Hauptstraße zog sich ein meterbreiter, klaffender Riß, aus dem Funken und fettiger schwarzer Qualm emporstiegen.
Die Küste war hinter einem Vorhang aus Rauch und brodelndem Dampf verschwunden, und doch hätte ich ein wartendes Schiff sofort sehen müssen.