»Sie sehen es ja nicht«, knurrte ich.
Shannon lachte leise. »Warum wirfst du nicht einen Blick nach hinten, ehe du weitersprichst?« fragte er.
Ich gehorchte - und zog die Hand so rasch vom Griff des Buschmessers, als hätte ich sie mir verbrannt.
Um uns herum herrschte beinahe undurchdringliche Finsternis. Aber so dunkel die Nacht war, reichte das bißchen verbliebene Helligkeit doch aus, die vier kleinwüchsigen Gestalten zu erkennen, die mich in kaum einem Yard Abstand umringten. Zwei von ihnen zielten mit Bögen auf mich, die ein gutes Stück größer waren als ihre Besitzer.
»Sie beobachten uns schon seit einer halben Stunde«, sagte Shannon ruhig. »Keine Sorge. Wenn sie uns umbringen wollten, wären wir längst tot. Aber sei vorsichtig, wenn du aufstehst.«
Ich bedankte mich für seinen guten Rat mit einem gifttriefenden Blick, hob vorsichtig die Arme in Schulterhöhe und stand ungeschickt auf. Die beiden Bögen folgten meiner Bewegung mit der Sturheit lauernder Schlangen.
Shannon trat langsam an meine Stelle, und hinter ihm wuchs ein weiteres halbes Dutzend Majunde-Krieger aus der Nacht.
»Laß mich reden«, wisperte Shannon. »Ich spreche Ihre Sprache.«
»Gibt es irgend etwas, was du nicht kannst?« fragte ich.
»Ja«, antwortete Shannon ernsthaft. »Kochen.« Er grinste, wurde übergangslos wieder ernst und trat dem vordersten Eingeborenen einen halben Schritt entgegen, blieb aber sofort wieder stehen, als dieser drohend seinen Bogen hob.
»Tiagunge«, begann Shannon. »Owagi chai...«
»Brechen sie sich nicht die Zunge ab, Mister«, sagte einer der Eingeborenen. »Ich spreche ihre Sprache.«
Shannon brach verblüfft ab. »Wer sind sie?« fragte er, an den Mann gewandt, der zwischen den anderen hervorgetreten war. Er war der einzige, der keine Waffen trug, wie mir jetzt auffiel.
»Mein Name ist Yo Mai«, antwortete der Majunde. »Sind Sie Shannon?«
Shannon nickte. Auf seinem Gesicht machte sich ein deutlicher Ausdruck von Erleichterung breit. »Sie haben mit Eldekerk gesprochen.«
Yo Mai nickte und kam einen Schritt näher, so daß ich sein Gesicht erkennen konnte. Er war klein und schmalschultrig wie auch die anderen Männer, und seine Haut war - soweit ich das bei der miserablen Beleuchtung erkennen konnte - von der Farbe dunkel gewordenen Kupfers. Sein Gesicht wies einen stark asiatischen Schlag auf, aber seine Lippen waren wulstig wie die eines afrikanischen Negers. Wie die anderen Majunde war er nackt, sah man von seinem barbarischen Halsschmuck und der bunten Feder ab, die er sich durch das linke Ohr gestochen hatte. Und er sprach beinahe besser Englisch als ich.
»Wer ist er?« fragte Yo Mai, während er mit der Hand auf mich deutete.
»Ein Freund«, sagte Shannon hastig. »Wir sind gekommen, um...«
»Ich weiß, weshalb Sie hier sind«, unterbrach ihn Yo Mai. »Eldekerk hat es uns gesagt. Wir werden darüber reden, doch nicht hier. Gebt eure Waffen.«
Er streckte befehlend die Hand aus. Vorsichtig zog ich das Buschmesser aus dem Gürtel und reichte es ihm, während Shannon, der wie üblich genug Mordinstrumente mit sich herumschleppte, um eine kleine Armee auszurüsten, seine Waffensammlung an einen der anderen Majunde aushändigte. Yo Mai drehte mein Messer ein paarmal in den Händen, schürzte verächtlich die Lippen und schleuderte die Waffe achtlos in den Busch.
»Gehen wir«, sagte er.
Es war sehr still geworden in der Höhle. Das Zischen und Brodeln des verflüssigten Steines klang gedämpft, und gleichzeitig hatte sich etwas körperloses Drohendes, Finsteres über die gewaltige Halle tief unter dem flammengekrönten Haupt des Krakatau ausgebreitet.
Dagons Blick hing wie gebannt an der faustgroßen Kugel aus wasserklarem Kristall, die unmittelbar vor ihm lag. Das Gebilde schwebte eine Handbreit über einem mächtigen, mit verwirrenden Linien und Symbolen bedeckten Block aus schwarzem Basalt, und manchmal glaubte Dagon ein rasches Huschen und Wogen wie von Nebeln oder kleinen, faserigen Gebilden in ihrem Inneren zu gewahren, das jedoch immer wieder verschwand, ehe er es wirklich erkennen konnte.
Der Anblick machte ihm Angst.
Nicht nur diese Kugel oder der schwarze Altarstein erfüllten ihn mit Furcht, sondern dieser ganze Raum, das Herz des Vulkans, zwei Meilen unter seinem Gipfel und Hunderte von Yards unter dem Meeresspiegel gelegen. Er gehörte nicht mehr ganz zu dieser Welt, das spürte er, aber auch noch nicht zu der anderen, aus der seine Schöpfer stammten.
Es war das zweite Mal, seit er hierhergekommen war, daß er diesen Raum betrat, und wie beim allerersten Mal erschütterte ihn der Anblick bis in die tiefsten Gründe seiner Seele.
Die Halle war riesig; eine Kuppel aus schwarzer Lava, deren Zenit sich gute hundert Meter über seinem Kopf spannte, und wie der größte Teil des gewaltigen Labyrinthes, das den Krakatau durchzog, war sie vom blutigen roten Licht der Lava erfüllt, Licht und Hitze, die aus zahllosen Rissen und Klüften im Boden oder den Wänden drängten. In ihrem hinteren Drittel, direkt unter dem einzigen Eingang, so daß jeder Sterbliche, der es wagen sollte, hierherzukommen, unweigerlich hineinstürzen und elendiglich verbrennen mußte, war der Boden geschmolzen und zu einem brodelnden Teich geworden, und von ihrer Südwand rieselte ein brennender Wasserfall aus Lava.
Die gegenüberliegende Wand bestand aus Wasser.
Der Anblick erschreckte ihn jetzt so wie beim ersten Mal. Wo massiver Fels sein sollte, erhob sich eine spiegelnde Wand aus schwarzem Wasser, erstarrt zur Festigkeit von Eis oder Stahl. Dagon hatte versucht, ihr Geheimnis mit Hilfe seiner magischen Kräfte zu erkunden, aber es war ihm nicht gelungen. Der Zauber, der das Meer davon abhielt, ins Innere des Krakatau zu stürzen, war zu stark.
Aber er wußte, daß es die Kugel war, sie und der Block aus lichtschluckendem schwarzem Basalt, die den magischen Bann aufrecht erhielten. Das SIEGEL...
Dagon atmete hörbar ein und erhob sich aus der knienden, demütigen Haltung, in der er die letzte halbe Stunde vor dem Altar und dem SIEGEL gehockt hatte. Angst und Ratlosigkeit hatten ihn hier herabgetrieben, sie und die verzweifelte Hoffnung, eine Antwort auf die drängenden Fragen zu finden, die ihn quälten. Aber das SIEGEL hatte geschwiegen, und seine Furcht war eher noch schlimmer geworden.
Ihm blieb nicht mehr viel Zeit. Bald würde die Mitternacht herankommen, und mit ihr die Boten der Mächtigen. Die Ssaddit würden hungrig sein, hungriger denn je, und wenn er nichts hatte, ihre Gier zu stillen,..
Dagon schauderte. Gleichzeitig verspürte er eine heiße Woge mörderischer, hilfloser Wut, als er an Tergard dachte. Er hatte geahnt, daß dieser Mann ihn betrügen würde, früher oder später, und er war darauf vorbereitet gewesen. Womit er nicht gerechnet hatte, war der Zeitpunkt.
Nur wenige Tage! dachte er voller Zorn. Nur wenige Tage noch, und er wäre am Ziel gewesen, fünftausend Jahre voller Angst und Flucht, fünf Millennien des Versteckens und Davonlaufens beendet.
Er dachte an alles, was er getan hatte, seit er das Zeittor geöffnet und um fast ein Jahrzehnt zurück in die Vergangenheit geflogen war, die einzige Richtung, in der er seine Spur wenigstens für eine Weile zu verwischen hoffte, all seine sorgfältigen Vorbereitungen, sein Planen und vorsichtiges Handeln, und sein Zorn wuchs erneut. All das sollte vergebens sein, nur wegen eines armseligen, machtgierigen Menschen? Die jahrhundertelangen Vorbereitungen, die ungeheure Anstrengung, die es gekostet hatte, die Falle...
Dagon zwang sich mit aller Macht, den Gedanken nicht zu Ende zu denken. Er durfte es nicht, nicht hier, nicht einmal oben, wo er nur in der Nähe der geistlosen Ssaddit und ihrer gefräßigen Jungen war.
Mit einem entschlossenen Ruck wandte sich Dagon um und verließ die Höhle. Die Zeit wurde knapp, und er mußte handeln, wollte er eine Katastrophe verhindern. Später würde Zeit genug sein, sich mit Tergard zu beschäftigen.