Dagon freute sich bereits darauf. Dieser Narr würde begreifen, was es hieß, einen Gott betrügen zu wollen!
Das Lager der Majunde lag nur wenige Meilen von der Küste entfernt, aber so gut verborgen im Dschungel Krakataus, daß es ebensogut auf dem Mond hätte liegen können. Wir waren eine weitere halbe Stunde durch den Wald gestolpert, als der Dschungel plötzlich wie abgeschnitten endete und sich eine halbkreisförmige, eine gute Viertelmeile messende Lichtung vor uns auf tat.
An die dreißig runde, mit spitzen Blätterdächern versehene Hütten gruppierten sich im Halbkreis um einen flachen See herum, dessen Wasser im Mondlicht wie geschmolzenes Pech schimmerte. Ein gewaltiges Lagerfeuer loderte im Zentrum des Eingeborenendorfes. Schattenhafte Gestalten bewegten sich davor, und die Nacht trug Fetzen eines fremdartig klingenden, aber sehr melodischen Gesanges heran.
Yo Mai gebot uns mit Gesten, stehenzubleiben, als wir die Lichtung zur Hälfte überquert hatten, und verschwand rasch in der Dunkelheit. Die anderen Majunde-Krieger umringten Shannon und mich weiter, und das ungute Gefühl in mir nahm weiter zu, jetzt, als ich sie im hellen Mondlicht erkennen konnte.
Selbst der größte von ihnen reichte mir gerade bis zur Schulter, und ich bin, obgleich nicht gerade klein, so doch auch alles andere als ein Riese. Aber was ihnen an Größe fehlte, das machten sie an Wildheit wieder wett. Ihre Gesichter waren - anders als das Yo Mais - mit bunten Farben bemalt, was ihnen ein schreckenerregendes Äußeres gab, und die Bögen in ihren Händen erweckten nicht gerade den Eindruck, als ob sie damit nur auf Paradiesvögel zu schießen gewohnt wären. Ein leiser:
Schauer überlief mich, als ich daran dachte, daß der Kannibalismus in diesem Teil der Welt nicht unbedingt so ungewöhnlich war wie in England.
Nach einer schieren Ewigkeit kam Yo Mai zurück, »Unser Ältester erwartet euch«, sagte er. Shannon nickte und wollte losgehen, aber Yo Mai hielt ihn mit einer fast hastigen Geste noch einmal zurück.
»Behandle ihn respektvoll«, sagte er warnend. »Und denke immer daran, daß ihr nur noch lebt, weil Eldekerk für euch gesprochen hat. Unsere Gastfreundschaft kennt Grenzen.« Shannon nickte abermals, warf mir einen auffordernden Blick zu und ging weiter. Ich folgte ihm.
Mit einer Mischung aus Neugier und Unbehagen sah ich mich um, als wir das Majunde-Dorf durchquerten. Trotz unserer mißlichen Lage schlug mich das Bild auf sonderbare Weise in seinen Bann.
Es war wie eine Reise in die Vergangenheit der Vergangenheit. Nur wenige Stunden hinter uns gab es eine Stadt, die, wenngleich über die Maßen ärmlich, so doch eindeutig zum neunzehnten Jahrhundert gehörte, und noch nicht einmal eine Woche zurück, war ich auf einem Schiff gewesen, das die Weltmeere mit der Kraft von hundert Elefanten kreuzte, aber dieses kleine Dorf hier schien geradewegs in die Steinzeit zu gehören.
Die Hütten waren aus Bast und Stroh und großen, fingerartigen Blättern gefertigt und ausnahmslos rund. Es gab keine Fenster, sondern nur eine niedrige, halbrunde Tür, durch die man wohl eher in ihr Inneres kriechen mußte, als man gehen konnte, und einen Rauchabzug im Dach, aber alles war von einer erstaunlichen Reinlichkeit. Verglichen mit dem Majunde-Dorf war Eldekerks Haus unten in der Stadt schlichtweg ein Saustall. Von der Van Helsing gar nicht erst zu reden.
Und auch die Majunde selbst kamen mir auf sonderbare Weise - obgleich behangen - zivilisiert vor. Ihre Gesichter waren voller Mißtrauen, und in so manchem Blick, der Shannon und mich traf, las ich einen tiefen, in endlosen Jahren der Feindschaft gewachsenen Groll; aber nirgendwo Falschheit.
»Gefällt große Massa, was weiße Massa sehen?« fragte Yo Mai plötzlich.
Ich wandte den Blick und sah ihn einen Moment an, bis ich begriff, was sein absichtliches Radebrechen bedeutete. Ein heftiger Ärger ergriff von mir Besitz.
»Ihr Zynismus ist fehl am Platze, mein Freund«, sagte ich. »Ich gestehe, daß ich überrascht bin. Angenehm überrascht.« Yo Mai lächelte entschuldigend. »Verzeihen sie, Mister Craven. Ich wollte sie nicht beleidigen.«
»Das haben sie aber«, sagte ich patzig.
Ich sah, wie er unter meinen Worten zusammenfuhr, und sie taten mir fast im selben Moment wieder leid. »Ich bin ein wenig gereizt«, sagte ich erklärend. »Es macht mich nervös, wenn jemand mit einem Bogen auf mich zielt.«
Yo Mai nickte. »Das kann ich verstehen«, sagte er. »Mir geht es ähnlich. Bei Gewehren.«
»Sie haben schlechte Erfahrungen mit Weißen gemacht«, vermutete ich.
Yo Mai schnaubte. »Schlechte Erfahrungen? Ich habe fünf Jahre unter Ihresgleichen gelebt, Mister Craven. Ich brauche keine Erfahrungen mehr zu machen.«
So, wie er das Wort Erfahrungen aussprach, klang es nach einer Obszönität, aber wir hatten mittlerweile das Zentrum des Platzes und das flackernde Lagerfeuer erreicht, so daß ich der unangenehmen Pflicht enthoben war, ihn zu fragen, wie er seine Worte gemeint habe. Yo Mai hob die Hand, um uns zu bedeuten, daß wir stehenzubleiben hätten, umrundete das Feuer und verschwand in einer Hütte. Wenige Augenblicke später kam er zurück, begleitet von dem mit Abstand ältesten Menschen, dem ich jemals begegnet war.
Der Majunde mußte weit über hundert Jahre alt sein. Seine Schultern waren gebeugt, als schleppe er eine unsichtbare Zentnerlast mit sich, und sein Gesicht glich einer verwirrenden Landschaft aus Falten und Runzeln, in die ein Paar kleiner, vom Alter trübe gewordener Augen eingebettet waren. Er hatte nicht mehr die Kraft, allein zu gehen; ein Mann, der ihn begleitete, mußte ihn stützen. Plötzlich begriff ich, warum Yo Mai uns befohlen hatte, diesen Alten respektvoll zu behandeln.
Mühsam umrundete er das Feuer, blieb auf Armeslänge vor Shannon und mir stehen und sah uns beide nacheinander und sehr ausgiebig an, Es war schwer, auf seinem faltenzerfurchten Gesicht irgendeine Regung abzulesen, aber als ich ihn von ahem sah, korrigierte ich meine Schätzung sein Alter betreffend noch einmal um einige Jahre. Nach oben. Schließlich begann er zu sprechen. Seine Stimme war so dünn, daß sie fast im Prasseln des Feuers unterging, und ich sah an der Reaktion auf Shannons Gesicht, daß er einen Dialekt sprach, von dem er keinen Ton verstand. Gottlob war Yo Mai da, der seine Worte übersetzte, kaum daß er geendet hatte.
»Ihr seid die Weißen Teufel, die uns um Hilfe bitten«, sagte der junge Majunde. »Ich biete euch Gastfreundschaft für die Dauer dieses Gespräches und meinen Schutz. Sprecht - und sprecht schnell, denn unsere Geduld ist fast so kurz wie die eure.«
Diese Formulierung gefiel mir nicht besonders, aber ich war klug genug, den Mund zu halten und Shannon reden zu lassen. »Sage dem Ältesten«, wandte er sich an Yo Mai, »daß wir ihm für seinen Schutz und seine Gastfreundschaft danken. Und daß wir nicht hier sind, um eure Hilfe zu erbitten, sondern um euch vor einer großen Gefahr zu warnen, die uns allen droht, gleich ob weißen Männern oder dem tapferen Volk der Majunde.«
Yo Mai stutzte, übersetzte aber gehorsam Shannons Worte. Der Alte hörte mit unbewegtem Gesicht zu und schwieg länger als fünf Minuten, ehe er antwortete.
Yo Mai übersetzte: »Wir fürchten keine Gefahr, weißer Mann, denn unsere Götter schützen uns.«
Der Alte hob den Arm und deutete mit einer von Gicht verkrümmten Hand zum Krater des Krakatau hinauf, der anderthalb Meilen über dem Eingeborenendorf Flammen gegen den Himmel spie. »Der große Gott Krakatau hält seine Hand über seine Kinder, wie er es seit Anbeginn der Welt getan hat. Wir vertrauen auf ihn. Die Gefahr mag die Weißen Teufel vernichten, doch wir wissen, daß Krakatau uns schützen wird.«
»Gegen die ostindische Gesellschaft hat er euch wenig genutzt«, knurrte ich. Shannon warf mir einen raschen, fast erschrockenen Blick zu, aber Yo Mai hatte meine Worte verstanden und übersetzte sie. Seltsamerweise reagierte der Alte ganz anders, als ich erwartet hatte. Einen Moment lang starrte er mich an, dann lachte er, leise und auf eine Art, die mich an das Meckern einer Ziege erinnerte, und Yo Mai übersetzte: »Du hast recht, Weißer Teufel. Doch der weiße Mann ist gekommen und wieder gegangen, und die Majunde und Krakatau sind geblieben.«