»Tergard und seine Bande sind noch da«, erinnerte ich, Shannons verzweifeltes Grimassenschneiden ignorierend. »Du hast recht, weißer Mann«, antwortete der Alte. »Die weißen Hunde, die im Zeichen des Kreuzes töten, sind noch da. Doch wir fürchten sie nicht. Der Wald schützt uns, und unser Gott wird sie vernichten. Wir spüren sein Zürnen schon seit langer Zeit. Seine Geduld ist groß, doch bald wird die Zeit der weißen Mörder abgelaufen sein.«
»Es geht nicht nur um sie«, sagte Shannon. Er hob die Hände und machte eine fast verzweifelte Geste. »Yo Mai, erkläre ihm, daß wir nicht wegen dieser Baphomet-Anbeter hier sind. Ich glaube euch, daß euer Gott das Volk der Majunde schützt. Doch es sind fremde Götter gekommen, Götter, die mächtiger und böser sind als die der weißen Männer. Mächtiger als euer Gott.«
»Hüte deine Zunge, du weißer Hund!« sagte eine Stimme hinter ihm. »Niemand beleidigt ungestraft unsere Götter!« Shannon und ich fuhren beinahe im selben Moment herum, Der gesamte Stamm schien zusammengekommen zu sein und bildete einen weit gespannten, aber auch dicht geschlossenen Halbkreis um uns, das Feuer und den Alten. Jetzt hatte sich dieser Halbkreis geteilt, um einem hochgewachsenen Mann Platz zu machen, der einen buntbestickten Mantel und eine hölzerne Maske vor dem Gesicht trug. Seiner Aufmachung nach zu schließen, mußte er so etwas wie der Medizinmann oder Magier des Stammes sein. Natürlich, dachte ich wütend Irgendeiner mußte immer stänkern.
Shannon deutete eine Verbeugung an. »Es lag mir fern, euren Gott zu beleidigen«, sagte er mit einer Stimme, die vor Kälte beinahe knisterte. »Doch ich weiß, wovon ich spreche. Euer Gott mag mächtig und gut sein, doch sie, vor denen zu warnen wir gekommen sind, sind mächtig und böse. Sie sind es, denen eure Brüder und Schwestern geopfert wurden, deren Tod ihr beklagt, und sie werden noch mehr töten.«
»Du lügst!« behauptete der Maskierte. Seine Stimme klang nur dumpf unter der hölzernen Maske hervor, und ihr verzerrte Echo ließ mich schaudern. Und ich spürte, daß ich nicht der inzige war, der urplötzlich Furcht vor diesem Mann empfand. Der Abstand, den die Eingeborenen zu ihm hielten, die schüchternen Blicke und verborgenen Gesten waren kein Respekt. Wenn die Majunde für diesen Mann irgend etwas empfanden, dann Angst.
Plötzlich trat er einen Schritt zurück, hob den linken Arm und schob den anderen unter den Mantel. Seine freie Hand deutete auf mich.
»Diese beiden sind gekommen, um uns mit ihren Lügen zu täuschen!« behauptete er. »Aber der mächtige Gott der Majunde läßt sich nicht täuschen. Seht, was er denen tut, die seine Kinder zu belügen versuchen!«
Ein furchtbarer Schmerz schoß durch meine Brust, so plötzlich, als hätte jemand einen glühenden Dolch direkt in mein Herz gestoßen. Ich keuchte, taumelte einen Schritt zurück und brach in die Knie. Ein vielstimmiger Schrei drang aus der Reihe der Majunde, aber ich hörte ihn kaum, sondern kämpfte mit verzweifelter Kraft darum, atmen zu können. Der Schmerz wurde immer stärker, steigerte sich zu purer Agonie und ließ das Lager vor meinen Augen hinter einem Vorhang aus wabernden roten Schemen verschwimmen.
»Hör auf!« Yo Mais Stimme übersetzte die Worte des Alten, so laut und in einem derart befehlenden, herrischen Tonfall, daß der Maskierte unwillkürlich den Blick hob. Seine rechte Hand kroch unter dem Umhang hervor, und im selben Moment erlosch der fürchterliche Schmerz in meiner Brust.
Mit einem erleichterten Keuchen sank ich nach vorn, fiel auf das Gesicht und rang würgend nach Atem. Der glühende Dolch war aus meiner Brust verschwunden, aber allein die Erinnerung an den Schmerz ließ mich weiter stöhnen und mich wie einen getretenen Wurm winden. Ich atmete, aber ich hatte noch immer das Gefühl, keine Luft zu bekommen; in meiner Kehle schien flüssige Lava zu sein, und eine unsichtbare Hand preßte mein Herz zusammen. Mein Pulsschlag war unregelmäßig und rasend und tat weh.
Erst als Shannon neben mir niederkniete und die Hand auf mein Herz legte, ließen Schmerz und Atemnot allmählich nach Aber es dauerte lange, und ich fühlte, wie schwer es dem jungen Magier fiel, das zu tun, was er mit die geheimen Kräfte meines Körpers mobilisieren meinte. Erst nach endlosen Minuten war ich wieder soweit, mich zu erheben und - kraftlos auf Shannons Arm gestützt - auf Yo Mai und den Alten zuzuwanken.
»Verzeiht unserem Magier«, übersetzte Yo Mai die Worte des Ältesten. »Er ist unbeherrscht und jung, und er haßt die Weißen Teufel, denn sie haben seine Familie verschleppt und getötet.«
Yo Mais Stimme klang dabei warm und voll ehrlichem Bedauern, aber ich hörte auch die Worte des Alten, die der junge Majunde übersetzte. In ihnen war nichts von dem ehrlichen Zorn, den Yo Mai empfand.
»Um all dem ein Ende zu bereiten, sind wir hier«, sagte Shannon. »Ich flehe dich an, Yo Mai - mach eurem Ältesten klar, daß wir es ehrlich meinen.«
»Wann hat es der Weiße Teufel jemals ehrlich gemeint?« fauchte der Magier. Wütend trat er zwischen Shannon und den Alten und machte eine herrische Geste mit der Hand. »Ich respektiere deinen Befehl, Ältester«, sagte er zornig. »Doch ich warne dich - die Weißen Teufel werden Tod und Unheil über das Volk der Majunde bringen, wie sie es immer getan haben. Sie reden mit den Zungen von Engeln, doch in ihren Herzen sind Teufel.«
»Idiot«, sagte ich, wohlweislich aber so leise, daß außer Shannon niemand das Wort verstehen konnte. Dabei konnte ich den Mann durchaus begreifen, bei allem Zorn, den seine Worte in mir auslösten. Bis vor ein paar Tagen hatte ich nicht einmal gewußt, daß es diese Insel gab, und bis vor wenigen Stunden gar hätte ich mir unter Majunde wahrscheinlich ein exotisches Gericht vorgestellt. Aber ich mußte dieses Volk auch nicht kennen, um mir seine Geschichte vorstellen zu können, Es war immer das gleiche, überall. Wo die sogenannten zivilisierten Nationen auf Urvölker trafen, gingen diese unter, früher oder später. Meist früher.
»Genug jetzt!« übersetzte Yo Mai die Worte des Alten. »Die beiden Weißen mögen warten. Der Ältestenrat wird entscheiden, was mit ihnen zu geschehen hat.«
»Entscheiden?« keuchte ich. »Aber ihr... ihr wißt ja noch gar nicht, was wir von euch wollen!«
»Wir wissen genug«, sagte Yo Mai. »Geht in jene Hütte dort und wartet. Ich werde zu euch kommen, sobald die Ältesten entschieden haben.«
Tergard stand hoch aufgerichtet auf der Klippe und sah auf das nachtschwarze Meer hinab. Der Wind war verstummt, und im selben Moment, in dem die bleiche Scheibe des Mondes hinter den Wolken hervorgekommen war, waren die Lichter über dem Meer erschienen; kurz darauf die Schiffe.
Wenn es Schiffe waren und nicht irgend etwas anderes... Der schlanke Master des Templer-Ordens schauderte. Er sollte Triumph empfinden, denn die Dinge entwickelten sich ganz so, wie er es vorausgesehen und erhofft hatte: Dagon schäumte vor Wut und verbrachte wahrscheinlich den größten Teil seiner Zeit damit, Rachepläne zu schmieden, aber er würde nicht mehr die Zeit haben, sie auszuführen. Von Osten her kamen die Schiffe, und sie brachten eine Fracht, die keinen Aufschub duldete. Dagon war in Zeitdruck, und er, Tergard, würde dafür sorgen, daß sich dieser Zustand nicht änderte, ehe es nicht zu spät war.
Und trotzdem fühlte er sich alles andere als wohl. Die Schiffe dort unten irritierten ihn. Er hatte gewußt, mit welchen Mächten er sich einließ, und er hatte vom ersten Tag an gewußt, daß es ein Spiel mit dem Feuer war, in einer gleich doppelten Bedeutung des Wortes. Aber er hatte es nie gesehen.