vor sich einen Passanten ihm entgegenkommen sah, der sich wahrscheinlich, ebenso wie er selbst, aus irgendwelchem Anlaß verspätet hatte. Die Sache hätte als etwas ganz Unbedeutendes, Zufälliges erscheinen können; aber aus einem nicht verständlichen Grunde regte sich Herr Goljadkin darüber auf und wurde sogar etwas ängstlich und verwirrt. Nicht eigentlich, daß er sich vor einem schlechten Menschen gefürchtet hätte, sondern vielleicht nur so, ohne rechten Grund... »Aber wer kennt ihn schließlich, diesen verspäteten Wanderer,« dachte Herr Goljadkin flüchtig; »vielleicht hat er es auch gerade auf mich abgesehen, und ich bin hier die Hauptsache, und er geht nicht zwecklos, sondern hat seine bestimmte Absicht und kreuzt geflissentlich meinen Weg und wird mit mir anbinden.« Vielleicht dachte übrigens Herr Goljadkin das eigentlich nicht, sondern hatte nur für einen Augenblick eine ähnliche, sehr unangenehme Empfindung. Übrigens hatte er zu Gedanken und Empfindungen keine Zeit mehr; der Fußgänger war schon nur noch zwei Schritte von ihm entfernt. Herr Goljadkin beeilte sich sofort nach seiner steten Gewohnheit eine ganz besondere Miene anzunehmen, eine Miene, die deutlich zum Ausdruck brachte, daß er, Goljadkin, still für sich dahingehe und sich um nichts kümmere, und daß der Weg für alle breit genug sei, und daß er selbst, Goljadkin, niemandem etwas zuleide tue. Plötzlich blieb er wie angenagelt, wie vom Blitz gerührt stehen, drehte sich dann schnell um und blickte dem Passanten nach, der soeben an ihm vorbeigegangen war, und zwar drehte er sich mit einer solchen Miene um, als wenn ihn eine fremde Kraft rückwärts zöge, als wenn ihn der Wind wie eine Wetterfahne umdrehte. Der Fußgänger war schnell in dem Schneegestöber verschwunden. Auch er ging eilig, auch er war wie Herr Goljadkin gekleidet und vom Kopf bis zu den Füßen eingehüllt und trippelte ebenso wie dieser mit schnellen, kleinen Schritten in einer Art von Trab auf dem Trottoir an der Fontanka dahin. »Was ist das?« flüsterte Herr Goljadkin, mißtrauisch lächelnd, aber am ganzen Leibe zitternd. Ein kalter Schauder lief ihm den Rücken entlang. Unterdessen war der Passant gänzlich verschwunden, auch seine Schritte waren nicht mehr zu hören; aber Herr Goljadkin stand immer noch da und sah ihm nach. Endlich indes kam er allmählich wieder zur Besinnung. »Aber was soll denn das heißen?« dachte er ärgerlich; »bin ich denn wirklich verrückt geworden?« Er wandte sich um und setzte seinen Weg fort, wobei er seine Schritte mehr und mehr beschleunigte und sich bemühte, überhaupt an nichts mehr zu denken. Zuletzt schloss er sogar in dieser Absicht die Augen. Auf einmal schlug mitten in dem Geheul des Windes und dem Geräusch des Unwetters wieder der Schall sehr naher Schritte an sein Ohr. Er fuhr zusammen und machte die Augen auf. Vor ihm war in einer Entfernung von ungefähr zwanzig Schritten wieder die dunkle Gestalt eines Menschen sichtbar, der sich ihm schnell näherte. Dieser Mensch eilte und hastete; die Entfernung verminderte sich rasch. Herr Goljadkin konnte seinen neuen verspäteten Gefährten sogar schon ganz deutlich sehen; er blickte hin und schrie vor Erstaunen und Schreck auf; die Beine brachen unter ihm zusammen. Es war jener selbe ihm bekannte Fußgänger, den er etwa zehn Minuten vorher an sich hatte vorbeigehen sehen, und der plötzlich ganz unerwartet jetzt wieder vor ihm erschien. Indes war dieses Wunder nicht der einzige Grund, weswegen Herr Goljadkin erstaunt war; erstaunt aber war Herr Goljadkin in so hohem Grade, dass er stehen blieb, aufschrie und etwas sagen wollte. Er machte sich daran, dem Unbekannten nachzulaufen; er rief ihm sogar etwas zu, wahrscheinlich in dem Wunsche, ihn schneller zum Stehenbleiben zu veranlassen. Der Unbekannte blieb wirklich ungefähr zehn Schritte von Herrn Goljadkin entfernt stehen, und zwar so, dass das Licht einer nahestehenden Laterne vollständig auf seine ganze Gestalt fiel; er blieb stehen, wandte sich zu Herrn Goljadkin um und wartete mit ungeduldiger, ernster Miene darauf, was dieser ihm sagen werde. »Entschuldigen Sie; ich habe mich wohl geirrt,« sagte unser Held mit zitternder Stimme. Der Unbekannte drehte sich schweigend und ärgerlich wieder um und setzte schnell seinen Weg fort, wie wenn er sich beeilen wollte, die mit Herrn Goljadkin verlorenen zwei Sekunden wieder einzubringen. Was Herrn Goljadkin betrifft, so zitterten ihm alle Glieder, die Knie wurden ihm schwach und knickten ein, und er setzte sich stöhnend auf einen neben dem Trottoir stehenden Prellstein. Übrigens hatte er wirklich allen Grund, in solche Bestürzung zu geraten. Die Sache war die, dass dieser Unbekannte ihm jetzt gewissermaßen bekannt vorkam. Und das wäre alles noch nichts gewesen. Aber er erkannte diesen Menschen, erkannte ihn jetzt fast mit Sicherheit. Er hatte ihn häufig gesehen, diesen Menschen, hatte ihn irgendwann gesehen, sogar erst ganz vor kurzem; wo war das doch gewesen? Etwa gestern? Übrigens war auch das wieder nicht die Hauptsache, dass Herr Goljadkin ihn häufig gesehen hatte: es war auch an diesem Menschen fast nichts Besonderes; er konnte entschieden beim ersten Blicke niemandes besondere Aufmerksamkeit erregen. Er war eben ein Mensch wie alle andern, selbstverständlich ein ordentlicher Mensch wie alle ordentlichen Menschen und besaß vielleicht irgendwelche, sogar recht erheblichen guten Eigenschaften; kurz, er war ein gewöhnlicher Mensch. Herr Goljadkin hegte sogar keinen Haß, keine Feindschaft, ja nicht einmal den leisesten Widerwillen gegen diesen Menschen, es hätte sogar scheinen können, daß das Gegenteil der Fall sei; und doch (und in diesem Umstande lag das Hauptgewicht), und doch hätte er für keine Schätze der Welt gewünscht, ihm zu begegnen und besonders ihm so zu begegnen wie z. B. jetzt. Wir können noch mehr sagen: Herr Goljadkin kannte diesen Menschen genau: er wußte sogar, wie er mit dem Vatersnamen und dem Familiennamen hieß: aber doch hätte er um keinen Preis und, um den Ausdruck zu wiederholen, für keine Schätze der Welt ihn nennen oder zugeben mögen, daß der Mensch da so heiße, diesen Vatersnamen und diesen Familiennamen führe. Wie lange Herrn Goljadkins verständnisloses Brüten dauerte, ob er lange auf dem Prellstein saß, das kann ich nicht sagen; aber als er endlich ein wenig zur Besinnung gekommen war, begann er auf einmal aus Leibeskräften zu laufen, ohne sich umzublicken; der Atem ging ihm aus; er stolperte zweimal und wäre beinah hingefallen, und bei dieser Gelegenheit verwaiste auch Herrn Goljadkins zweiter Stiefel, indem er ebenfalls seinen Gummischuh verlor. Endlich mäßigte Herr Goljadkin seinen Schritt ein wenig, um wieder zu Atem zu kommen, blickte eilig um sich und sah, daß er bereits, ohne es zu merken, seinen ganzen Weg an der Fontanka entlang zurückgelegt, die Anitschkow-Brücke überschritten, einen Teil des Newski-Prospektes entlang gegangen war und jetzt an der Kreuzung mit der Liteinaja-Straße stand. Herr Goljadkin bog in die Liteinaja-Straße ein. Seine Lage glich in diesem Augenblicke der Lage eines Menschen, der am Rande eines furchtbaren Abgrundes steht, wenn die Erde unter seinen Füßen sich loslöst, sich schon geneigt, sich schon in Bewegung gesetzt hat, zum letzten Male schwankt, fällt und ihn in den Abgrund hinabreißt, während der Unglückliche nicht genug geistige Kraft und Energie besitzt, um zurückzuspringen und seine Augen von dem gähnenden Schlunde abzuwenden; der Abgrund zieht ihn an, und er springt schließlich selbst in ihn hinein und beschleunigt selbst den Augenblick seines eigenen Unterganges. Herr Goljadkin wußte, fühlte und war völlig überzeugt, daß ihm unbedingt unterwegs noch etwas Übles zustoßen, daß ihm noch irgendwelche Unannehmlichkeit widerfahren, daß er z. B. seinem Unbekannten wieder begegnen werde; aber seltsam: er wünschte diese Begegnung sogar, hielt sie für unvermeidlich und wünschte nur, daß alles möglichst schnell zu Ende gehen, seine Lage sich irgendwie entscheiden möchte, aber nur recht bald. Dabei aber lief und lief er immer, und zwar wie von einer fremden Kraft getrieben; denn in seinem ganzen Wesen fühlte er eine Art von Taubheit und Schwäche; er konnte nichts überlegen, obgleich seine Gedanken sich wie ein Dorngesträuch an alles anhakten. Ein verlaufenes Hündchen, ganz naß und zitternd, schloß sich an Herrn Goljadkin an und lief eilig neben ihm her; es hatte den Schwanz und die Ohren angedrückt und blickte von Zeit zu Zeit schüchtern und mit leicht verständlichem Ausdruck zu ihm hin. Ein ferner, längst schon vergessener Gedanke, die Erinnerung an ein weit zurückliegendes Ereignis, kam ihm jetzt in den Kopf, klopfte wie ein Hammer darin umher, ärgerte ihn und wollte nicht wieder weichen. »Ach, der widerwärtige kleine Hund!« flüsterte Herr Goljadkin vor sich hin, ohne sich selbst zu begreifen. Endlich erblickte er seinen Unbekannten an der Ecke der Italjanskaja-Straße. Aber jetzt kam der Unbekannte ihm nicht mehr entgegen, sondern er bewegte sich in derselben Richtung wie er und lief ebenfalls einige Schritte vor ihm. Endlich kamen sie in die Schestilawotschnaja-Straße. Herr Goljadkin war ganz außer Atem. Der Unbekannte blieb gerade vor dem Hause stehen, in welchem Herr Goljadkin wohnte. Die Klingel ertönte und fast gleichzeitig das Kreischen des eisernen Riegels. Das Pförtchen öffnete sich; der Unbekannte bückte sich, schlüpfte hinein und war verschwunden. Fast in demselben Augenblicke kam auch Herr Goljadkin eilig herbei und flog wie ein Pfeil durch das Tor. Ohne auf den brummenden Hausknecht zu hören, lief er atemlos auf den Hof und erblickte sogleich seinen interessanten Gefährten wieder, den er einen Augenblick aus den Augen verloren gehabt hatte. Der Unbekannte wurde ihm an dem Eingange zu derjenigen Treppe flüchtig sichtbar, die zu Herrn Goljadkins Wohnung führte. Herr Goljadkin stürzte ihm nach. Die Treppe war dunkel, feucht und schmutzig. Auf allen Absätzen war eine Menge verschiedenartigen Gerümpels aufgehäuft, das den Mietern gehörte, so daß ein ortsunkundiger Fremder, der im Dunkeln auf diese Treppe geriet, wohl eine halbe Stunde gebrauchte, um sich hinaufzuarbeiten, Gefahr lief, sich die Beine zu brechen, und zugleich mit der Treppe auch seine Bekannten verwünschte, die in einem so gräßlichen Hause Wohnung genommen hatten. Aber Herrn Goljadkins Gefährte schien gut bekannt und ein Hausangehöriger zu sein; er lief, ohne Schwierigkeiten zu finden, behende und mit völliger Ortskenntnis hinauf. Herr Goljadkin hatte ihn beinah ganz eingeholt; zwei- oder dreimal schlug ihm sogar der Saum des Mantels des Unbekannten an die Nase. Sein Herzschlag drohte auszusetzen. Der geheimnisvolle Mensch blieb gerade vor der Tür zu Herrn Goljadkins Wohnung stehen, klopfte, und (was übrigens zu anderer Zeit Herrn Goljadkin in Erstaunen versetzt hätte) Petruschka öffnete, wie wenn er gewartet und sich nicht schlafen gelegt hätte, sogleich die Tür und empfing den Eintretenden mit einer Kerze in der Hand. Ganz außer sich lief der Held unserer Erzählung in seine Wohnung hinein; ohne Mantel und Hut abzulegen, durchschritt er den Flur und blieb wie vom Donner gerührt auf der Schwelle seines Zimmers stehen. Herrn Goljadkins Ahnungen waren sämtlich in Erfüllung gegangen. Alles, was er befürchtet und vorher vermutet hatte, war jetzt zur vollen Wirklichkeit geworden. Der Atem stockte ihm, der Kopf schwindelte ihm. Der Unbekannte saß vor ihm, ebenfalls in Mantel und Hut, auf seinem eigenen Bette, lächelte leise, kniff die Augen ein wenig zusammen und nickte ihm freundschaftlich zu. Herr Goljadkin wollte aufschreien, aber er konnte es nicht; er wollte irgendwie Einspruch erheben, aber seine Kraft reichte dazu nicht aus. Die Haare auf seinem Kopfe sträubten sich, und er knickte, vor Schreck besinnungslos, da wo er stand, zusammen. Und er hatte auch allen Grund entsetzt zu sein. Herr Goljadkin hatte seinen nächtlichen Freund vollständig erkannt. Sein nächtlicher Freund war kein anderer als er selbst, Herr Goljadkin selbst, ein anderer Herr Goljadkin, aber vollständig derselbe wie er selbst, mit einem Worte, was man nennt, sein Doppelgänger in jeder Beziehung –