6. Kapitel
Am andern Tage, genau um acht Uhr, erwachte Herr Goljadkin auf seinem Bette. All die außerordentlichen Erlebnisse des gestrigen Tages und die ganze unglaubliche, seltsame Nacht mit ihren fast unmöglichen Abenteuern stellten sich sofort mit einem Male seiner Denkkraft und seinem Gedächtnisse dar. Eine derartige grimmige, höllische Bosheit seiner Feinde und namentlich der letzte Beweis dieser Bosheit ließen Herrn Goljadkins Herz zu Eis erstarren. Aber zugleich war dies alles so seltsam, unbegreiflich, absonderlich, es erschien so unmöglich, daß es tatsächlich schwer war, an diese ganze Sache zu glauben; Herr Goljadkin neigte sogar selbst dazu, dies alles für einen wesenlosen Fiebertraum, für eine augenblickliche Verwirrung der Einbildungskraft, für eine Verdunkelung des Verstandes zu halten; aber glücklicherweise wußte er aus eigener bitterer Erfahrung, wieweit manchmal die Bosheit einen Menschen zu bringen vermag, und wieweit manchmal die Grausamkeit eines Feindes gehen kann, der sich für eine Kränkung seiner Ehre oder seines Ehrgeizes rächen möchte. Dazu kam, daß Herrn Goljadkins wie zerschlagene Glieder, sein benommener Kopf, sein steifes Kreuz und sein bösartiger Schnupfen bestätigendes Zeugnis dafür ablegten, daß es mit der gestrigen nächtlichen Wanderung und dem, was sich bei dieser Wanderung zugetragen hatte, seine Richtigkeit habe. Und schließlich hatte Herr Goljadkin auch schon längst gewußt, daß seine Feinde etwas gegen ihn planten, und daß da noch ein anderer mit ihnen unter einer Decke steckte. Aber was, was hatten sie vor? Nach gründlicher Überlegung entschied sich Herr Goljadkin dafür, zu schweigen, sich zu fügen und vorläufig nicht dagegen zu protestieren. »Vielleicht beabsichtigen sie nur, mich zu erschrecken, und wenn sie sehen, daß ich nicht darauf reagiere, nicht protestiere, sondern mich ganz ruhig verhalte und alles ruhig ertrage, so werden sie auch aufhören, von selbst aufhören und sogar die ersten sein, die aufhören.«
Solche Gedanken gingen Herrn Goljadkin durch den Kopf, als er, sich in seinem Bette ausstreckend und die gelähmten Glieder wieder zurechtbringend, darauf wartete, daß Petruschka wie gewöhnlich ins Zimmer käme. Er wartete schon eine Viertelstunde lang; er hörte, wie der faule Petruschka hinter der Scheidewand mit dem Samowar herumhantierte, konnte sich aber nicht dazu entschließen, ihn zu rufen. Wir können noch mehr sagen: Herr Goljadkin fürchtete sich jetzt sogar ein wenig davor, seinem Petruschka Auge in Auge gegenüberzutreten. »Gott weiß,« dachte er, »Gott weiß, wie dieser Schlingel jetzt die ganze Sache ansieht. Er schweigt und schweigt, macht sich aber gewiß seine eigenen Gedanken darüber.« Endlich knarrte die Tür, und Petruschka erschien mit einem Präsentierbrett in den Händen. Herr Goljadkin schielte schüchtern nach ihm hin und wartete ungeduldig darauf, was nun kommen werde, und ob er endlich etwas über den bewußten Vorgang sagen werde. Aber Petruschka sagte nichts, sondern war im Gegenteil noch schweigsamer, mürrischer und ärgerlicher als gewöhnlich und schielte finster um sich her; überhaupt war zu merken, daß er mit irgend etwas äußerst unzufrieden war; er blickte seinen Herrn sogar nicht ein einziges Mal an (was, beiläufig gesagt, bei Herrn Goljadkin eine peinliche Empfindung hervorrief), setzte alles, was er trug, auf den Tisch, drehte sich um und ging schweigend wieder zurück hinter seine Scheidewand. »Er weiß es, er weiß es, er weiß alles, der Taugenichts!« murmelte Herr Goljadkin, während er sich anschickte, seinen Tee zu trinken. Aber unser Held richtete an seinen Diener keinerlei Fragen, obgleich Petruschka nachher noch mehrere Male zur Erledigung von allerlei Obliegenheiten ins Zimmer kam. Herr Goljadkin befand sich in sehr aufgeregter Gemütsverfassung. Er ängstigte sich auch davor, in die Kanzlei zu gehen. Er hatte ein starkes Vorgefühl, als werde ihm dort etwas Unangenehmes begegnen. »Wenn man da hinkommt,« dachte er, »kann einem leicht etwas passieren! Ist es nicht besser, noch ein Weilchen hierzubleiben und zu warten? Mögen sie sich dort ohne mich behelfen; ich will heute hierbleiben, neue Kraft sammeln, mich erholen, über diese ganze Geschichte ordentlich nachdenken und dann den richtigen Augenblick abpassen und sie alle durch mein Erscheinen überraschen.« Während Herr Goljadkin diese Überlegungen anstellte, rauchte er eine Pfeife nach der andern; die Zeit verging; es war beinah halb zehn. »Sieh mal an, es ist ja schon halb zehn,« dachte Herr Goljadkin; »nun ist es sowieso zu spät zum Hingehen. Und überdies bin ich krank; selbstverständlich bin ich krank, unbedingt krank; wer will sagen, daß ich nicht krank wäre? Was kann mir passieren? Und wenn sie auch herschicken, um es feststellen zu lassen, und wenn auch der Inspektor kommt: was kann mir denn in der Tat passieren? Ich habe ja Rückenschmerzen und Husten und Schnupfen; und schließlich darf ich bei diesem Wetter schlechterdings nicht ausgehen, unter keinen Umständen; ich könnte ernstlich krank werden und am Ende gar sterben; die Sterblichkeit ist zurzeit überhaupt eine besonders große...« Durch solche Erwägungen beruhigte Herr Goljadkin endlich sein Gewissen vollkommen und rechtfertigte sich im voraus vor sich selbst gegen den Verweis, den er von Andrei Filippowitsch wegen Nachlässigkeit im Dienste zu erwarten hatte. Überhaupt liebte in allen ähnlichen Lagen unser Held es sehr, sich durch allerlei unwiderlegliche Argumente in seinen eigenen Augen zu rechtfertigen und auf diese Art sein Gewissen zu beruhigen. Nachdem er dies also auch jetzt getan hatte, griff er von neuem nach der Pfeife, stopfte sie und fing gerade an ordentlich zu rauchen da sprang er schnell vom Sofa auf, warf die Pfeife hin, wusch, rasierte und kämmte sich schnell, zog die Uniform und alles übrige an, ergriff einige Akten und eilte nach der Kanzlei.