In seiner Unruhe, seiner Angst und Verwirrung fühlte unser Held, daß es so nicht bleiben könne, daß der entscheidende Augenblick herannahe, daß er sich mit irgend jemand aussprechen müsse, und so begann er denn sich allmählich nach der Stelle hin zu bewegen, wo sein unwürdiger, rätselhafter Freund stand. Aber gerade in diesem Augenblicke fuhr die langerwartete Equipage Seiner Exzellenz am Portal vor. Fedofjeitsch riß die Tür auf und ließ, sich bogenförmig zusammenkrümmend, Seine Exzellenz an sich vorbei. Alle Wartenden strömten mit einem Male zum Ausgang hin und drängten für einen Augenblick Herrn Goljadkin den älteren von Herrn Goljadkin dem jüngeren ab. »Du entgehst mir nicht!« sagte unser Held, sich durch die Menge schiebend und den Betreffenden nicht aus den Augen lassend. Endlich zerstreute sich die Menge. Unser Held fühlte sich wieder im Freien und machte sich schleunigst an die Verfolgung seines Feindes.
11. Kapitel
Keuchend flog Herr Goljadkin hinter seinem sich schnell entfernenden Feinde her. Er fühlte in sich eine gewaltige Energie. Übrigens konnte Herr Goljadkin trotz des Vorhandenseins dieser gewaltigen Energie ganz sicher sein, daß in diesem Augenblicke sogar eine gewöhnliche Mücke, wenn eine solche in dieser Jahreszeit in Petersburg hätte leben können, durchaus imstande sein würde, ihn mit ihren Flügeln niederzuschlagen. Er fühlte, daß er ganz matt und kraftlos wurde, daß die Beine unter ihm einknickten und den Dienst versagten; es kam ihm vor, als ob er überhaupt nicht selbst gehe, sondern von einer besonderen, fremden Kraft vorwärtsgetragen werde. Indessen konnte sich das alles noch gut gestalten. »Ob es sich nun gut gestaltet oder nicht,« dachte Herr Goljadkin, atemlos von dem schnellen Laufen, »daran, daß die Sache verloren ist, besteht jetzt auch nicht der leiseste Zweifel; daß ich völlig verloren bin, das ist sicher, bestimmt, unterschrieben und besiegelt.« Aber trotzdem war unserm Helden zumute, wie wenn er von den Toten erstanden wäre oder eine Schlacht durchgekämpft und den Sieg errungen hätte, als es ihm gelang, seinen Feind am Mantel festzuhalten in dem Augenblicke, wo dieser schon den einen Fuß auf eine Droschke setzte, die er soeben genommen hatte. »Mein Herr, mein Herr!« rief er dem endlich eingeholten unedlen Herrn Goljadkin dem jüngeren zu. »Mein Herr, ich hoffe, daß Sie...«
»Nein, bitte, hoffen Sie nichts!« antwortete Herrn Goljadkins gefühlloser Feind ablehnend; er stand mit dem einen Beine auf einer Trittstufe der Droschke und strebte aus Leibeskräften danach, mit dem andern Beine auf die zweite Stufe zu gelangen, wobei er mit ihm vergeblich in der Luft herumarbeitete und sich aus aller Kraft bemühte, Herrn Goljadkin dem älteren seinen Mantel aus den Händen zu reißen, den dieser seinerseits mit aller Kraft, die ihm die Natur verliehen hatte, festhielt.
»Jakow Petrowitsch! Nur zehn Minuten...«
»Verzeihen Sie, ich habe keine Zeit.«
»Sie müssen selbst zugeben, Jakow Petrowitsch... bitte, Jakow Petrowitsch... um Gottes willen, Jakow Petrowitsch... ich muß mich notwendigerweise mit Ihnen aussprechen... offen und ehrlich... Nur eine Sekunde, Jakow Petrowitsch!«
»Mein Täubchen, ich habe keine Zeit,« versetzte Herrn Goljadkins heuchlerischer Feind mit unhöflicher Vertraulichkeit, aber mit scheinbarer Gutherzigkeit; »ein andermal will ich mich gern mit Ihnen aus tiefster Seele offen und ehrlich aussprechen, glauben Sie mir; aber jetzt ist es mir wirklich unmöglich.«
»Du Schurke!« dachte unser Held. »Jakow Petrowitsch!« rief er voll Kummer, »ich bin nie Ihr Feind gewesen. Böse Menschen haben eine falsche Schilderung von mir gemacht... Meinerseits bin ich bereit... Jakow Petrowitsch, wenn es Ihnen gefällig ist, so könnten wir beide sogleich hier hineingehen... Und da könnten wir offen und ehrlich, wie Sie soeben so schön sagten, und in einfacher, edler Sprache... hier in dieses Kaffeehaus; dann wird sich alles von selbst aufklären; sehen Sie wohl, Jakow Petrowitsch! Dann wird sich unfehlbar alles von selbst aufklären...«
»In das Kaffeehaus? Nun schön! Ich habe nichts dagegen; gehen wir in das Kaffeehaus; aber nur unter der Bedingung, mein Teuerster, unter der einzigen Bedingung, daß sich dort alles von selbst aufklärt. Na ja, mein Herzchen,« sagte Herr Goljadkin der jüngere, während er von der Droschke wieder herunterstieg und unserm Helden in unverschämter Manier auf die Schulter klopfte, »Sie sind mir ein so lieber Freund; für Sie, Jakow Petrowitsch, bin ich bereit, auch in eine Seitengasse zu gehen (wie Sie einmal sehr richtig bemerkten, Jakow Petrowitsch). Sie sind doch wirklich ein schlauer Mensch; was er will, dazu bringt er einen auch!« fuhr Herrn Goljadkins lügnerischer Freund fort, indem er, leise lächelnd, sich um ihn herumdrehte und um ihn herumscherwenzelte. Das von den großen Straßen entfernt gelegene Kaffeehaus, in welches die beiden Herren Goljadkin eintraten, war in diesem Augenblicke ganz leer. Eine ziemlich dicke Deutsche erschien am Büfett, sobald der Ton der Türklingel sich vernehmen ließ. Herr Goljadkin und sein unwürdiger Feind gingen hindurch in ein zweites Zimmer, wo ein aufgedunsener, über den Kamm geschorener Junge sich am Ofen mit einem Bündel Späne abmühte, das ausgegangene Feuer wieder anzuzünden. Auf Herrn Goljadkins des jüngeren Verlangen wurde Schokolade gebracht.
»Ein schön fleischiges Frauchen!« sagte Herr Goljadkin der jüngere und blinzelte Herrn Goljadkin dem älteren schlau zu.
Unser Held errötete und schwieg.
»Ach ja, ich hatte vergessen; entschuldigen Sie! Ich kenne ja Ihren Geschmack. Wir haben eine Vorliebe für schlanke deutsche Damen, mein Herr; ja, ja, Sie redliche Seele, Jakow Petrowitsch, wir haben eine Vorliebe für schlanke deutsche Damen, wenn sie nur sonst nicht der Reize bar sind; wir mieten uns bei ihnen ein, verderben ihre Moralität, weihen ihnen zum Dank für ihre Bier- und Milchsuppen unser Herz und geben ihnen allerlei Unterschriften – so machen wir's, Sie Faublas, Sie Verräter!« Mit diesen Reden machte Herr Goljadkin der jüngere eine ganz unnötige, aber boshaft schlaue Anspielung auf eine gewisse Person weiblichen Geschlechts; dabei benahm er sich sehr betulich gegen Herrn Goljadkin, lächelte ihm mit anscheinender Liebenswürdigkeit zu und kehrte heuchlerisch eine schöne Treuherzigkeit und eine lebhafte Freude über das Zusammensein mit ihm heraus. Als er jedoch merkte, daß Herr Goljadkin der ältere durchaus nicht so dumm und ungebildet und guter Manieren unkundig war, daß er ihm ohne weiteres getraut hätte, da beschloß der unedle Mensch seine Taktik zu ändern und sich eines offenen Verfahrens zu bedienen. Sogleich nachdem er jene abscheulichen Reden geführt hatte, schloß der falsche Herr Goljadkin damit, daß er mit empörender Schamlosigkeit und Familiarität dem gesetzten Herrn Goljadkin auf die Schulter klopfte und, damit nicht zufrieden, in einer Weise, die in guter Gesellschaft als ganz unanständig gilt, mit ihm sein Spiel zu treiben begann. Er beabsichtigte nämlich, seine frühere Ungezogenheit zu wiederholen, d. h. er kniff trotz des Widerstandes und leichten Aufschreiens des empörten älteren Herrn Goljadkin diesen in die Backe. Bei diesem abscheulichen Benehmen kochte unser Held innerlich; aber er schwieg... wenigstens zunächst.