»Dein bis zum Grabe!
Klara Olsufjewna.«
Nachdem unser Held den Brief gelesen hatte, war er einige Minuten lang wie betäubt. In furchtbarer Pein, in schrecklicher Aufregung, bleich wie Leinewand, ging er mit dem Briefe in der Hand mehrmals im Zimmer auf und ab; um die Mißlichkeit seiner Lage voll zu machen, bemerkte unser Held nicht, daß er in diesem Augenblicke der Gegenstand ausschließlicher Aufmerksamkeit aller im Zimmer Anwesenden war. Seine unordentliche Kleidung, die Aufregung, die er nicht zu unterdrücken vermochte, die Art, wie er im Zimmer hin und her ging oder, richtiger gesagt, lief, die Gestikulationen, die er mit beiden Händen ausführte, vielleicht auch einige rätselhafte Worte, die er selbstvergessen vor sich hin sprach, alles diente wahrscheinlich sehr wenig zu Herrn Goljadkins Empfehlung bei den Besuchern des Lokals, und sogar der Kellner begann ihn mißtrauisch zu betrachten. Als unser Held wieder zur Besinnung gekommen war, bemerkte er, daß er mitten im Zimmer stand und in beinah unanständiger, unhöflicher Art einen ältlichen Herrn von sehr achtbarem Äußern anstarrte, der sein Mittagessen verzehrt, sein Gebet vor dem Heiligenbilde verrichtet, sich dann wieder hingesetzt hatte und seinerseits ebenfalls seine Blicke nicht von Herrn Goljadkin abwandte. Verwirrt sah unser Held um sich und bemerkte, daß alle, geradezu alle, ihn mit mißtrauischer Miene, die nichts Gutes erwarten ließ, anblickten. Auf einmal verlangte ein pensionierter Militär die »Polizei-Nachrichten«. Herr Goljadkin zuckte zusammen und errötete: unwillkürlich schlug er dabei die Augen zu Boden und sah dabei, daß sein Kostüm sich in einem unanständigen Zustande befand, der nicht einmal innerhalb seiner vier Wände erträglich gewesen wäre, geschweige denn an einem öffentlichen Orte. Seine Stiefel, seine Beinkleider und die ganze linke Seite waren über und über voll Schmutz; der Steg am rechten Bein war abgerissen, und der Frack wies sogar an vielen Stellen Löcher auf. In tiefstem Seelenschmerze trat unser Held an den Tisch heran, an dem er den Brief gelesen hatte, und sah, daß der Kellner sich ihm näherte und ihn mit einem sonderbaren, dreisten Gesichtsausdruck beharrlich anblickte. Fassungslos und ganz niedergeschlagen begann unser Held den Tisch zu mustern, neben dem er jetzt stand. Auf dem Tische standen die noch nicht weggeräumten Teller von dem Mittagessen, das jemand dort eingenommen hatte; ebendort lag eine beschmutzte Serviette, sowie ein Messer, eine Gabel und ein Löffel, die soeben benutzt worden waren. »Wer mag hier zu Mittag gegessen haben?« dachte unser Held. »Bin ich es wirklich selbst gewesen? Sehr wohl möglich! Ich habe zu Mittag gegessen und selbst nichts davon gemerkt; was soll ich nur anfangen?« Aufblickend gewahrte er neben sich den Kellner, der ihm etwas sagen wollte.
»Wieviel bin ich schuldig, lieber Freund?« fragte unser Held mit zitternder Stimme.
Ein lautes Gelächter erscholl rings um Herrn Goljadkin; sogar der Kellner lächelte. Herr Goljadkin merkte, daß er sich auch hiermit blamiert und eine furchtbare Dummheit gemacht hatte. Infolge dieser Erkenntnis wurde er so verlegen, daß er genötigt war, nach seinem Taschentuche in die Tasche zu greifen, wahrscheinlich um nur irgend etwas zu tun und nicht so zwecklos dazustehen; aber zu seinem und aller Anwesenden Erstaunen zog er statt des Taschentuches ein Fläschchen mit der Arznei heraus, die ihm Krestjan Iwanowitsch vor vier Tagen verschrieben hatte. »Medizin aus derselben Apotheke,« ging es Herrn Goljadkin durch den Kopf... Plötzlich fuhr er zusammen und schrie beinah auf vor Schreck. Ein neues Licht ergoß sich vor seinem geistigen Blicke... Die dunkelrote, widerliche Flüssigkeit schimmerte in unheilverkündendem Glänze vor Herrn Goljadkins Augen... Das Fläschchen fiel ihm aus den Händen und zerbrach. Unser Held schrie auf und sprang vor der umherspritzenden Flüssigkeit ein paar Schritte zurück... er zitterte an allen Gliedern, und der Schweiß brach ihm an den Schläfen und auf der Stirn aus. »Also ist mein Leben in Gefahr!« Unterdessen war im Zimmer eine Bewegung und Verwirrung entstanden; alle umringten Herrn Goljadkin, alle redeten zu ihm, einige faßten ihn sogar an. Aber unser Held stand stumm und regungslos; er sah nichts, hörte nichts, fühlte nichts... Endlich riß er sich von dem Flecke, wo er stand, los, stürzte aus dem Restaurant hinaus, stieß alle, die sich bemühten, ihn festzuhalten, zurück, warf sich beinah besinnungslos in die erste beste Droschke und fuhr eilig nach Hause.
Im Flur seiner Wohnung traf er den Kanzleidiener Michejew mit einem amtlichen Schreiben in der Hand. »Ich weiß, mein Freund, ich weiß alles,« antwortete unser Held, der völlig erschöpft war, mit matter, trauriger Stimme; »das ist etwas Amtliches...« Das Schreiben enthielt in der Tat die von Andrei Filippowitsch unterzeichnete Anweisung für Herrn Goljadkin, die in seinen Händen befindlichen Akten an Iwan Semjonowitsch abzuliefern. Nachdem er den Brief in Empfang genommen und dem Kanzleidiener ein Zehnkopekenstück gegeben hatte, ging Herr Goljadkin in seine Wohnung hinein und sah, daß Petruschka in seinem Verschlage dabei war, all seine Sachen auf einen Haufen zusammenzulegen, offenbar in der Absicht, Herrn Goljadkin zu verlassen und als Jewstafis Nachfolger in Karolina Iwanownas Dienst zu treten, die ihn seinem Herrn abwendig gemacht hatte.
12. Kapitel
Petruschka trat, sich hin und her wiegend, ins Zimmer; seine Haltung hatte etwas sonderbar Nachlässiges, sein Gesicht zeigte die triumphierende Miene eines Knechtes. Man konnte ihm ansehen, daß er etwas vorhatte und sich in seinem Rechte fühlte; er sah aus wie ein Fremder, d. h. wie der Diener eines andern Herrn, nicht wie Herrn Goljadkins bisheriger Diener.
»Nun, siehst du, mein Lieber,« begann unser Held, immer noch außer Atem, »was ist jetzt die Uhr, mein Lieber?«
Petruschka ging schweigend hinter die Scheidewand, kam zurück und meldete in einem wenig dienermäßig klingenden Tone, es sei bald halb acht.
»Nun schön, mein Lieber, schön! Nun, siehst du, mein Lieber... Dann möchte ich dir sagen, mein Lieber, daß unser wechselseitiges Verhältnis jetzt zu Ende ist.«
Petruschka schwieg.
»Also da nun jetzt unser wechselseitiges Verhältnis zu Ende ist, so sage mir doch jetzt aufrichtig, sage mir wie ein Freund dem Freunde, wo du gewesen bist, mein Lieber!«
»Wo ich gewesen bin? Bei guten Leuten bin ich gewesen.«
»Ich weiß, mein Freund, ich weiß. Ich bin mit dir stets zufrieden gewesen, mein Lieber, und werde dir auch ein gutes Zeugnis ausstellen... Nun, bist du denn jetzt bei denen im Dienst?«
»Nun ja, Herr! Sie wissen es ja selbst. Ein guter Mensch lehrt einen nichts Schlechtes.«
»Ich weiß, mein Lieber, ich weiß. Heutzutage sind gute Leute selten, mein Freund; die mußt du zu schätzen wissen, mein Freund. Nun, wie sind sie denn?«
»Das wissen Sie ja... Aber bei Ihnen, Herr, kann ich jetzt nicht länger dienen; das werden Sie ja selbst wissen.«
»Ich weiß, mein Lieber, ich weiß; ich kenne deinen Eifer und deine Dienstwilligkeit; ich habe das alles gesehen, mein Freund, habe das alles bemerkt. Ich schätze dich hoch, mein Freund. Ich schätze einen guten, ehrenhaften Menschen hoch, wenn er auch ein Diener ist.«
»Nun ja, das weiß ich. Unsereiner muß natürlich dahin gehen, wo es besser ist; das wissen Sie selbst. Das ist nun einmal nicht anders. Was soll ich machen? Sie wissen, Herr, einen guten Menschen muß man haben.«
»Nun schön, mein Lieber, schön! Ich kann dir das nachfühlen... Nun also, da hast du dein Geld und dein Zeugnis. Jetzt wollen wir uns küssen, lieber Freund, und voneinander Abschied nehmen...«
»Jetzt, mein Lieber, bitte ich dich noch um einen einzigen Dienst, um einen letzten Dienst,« sagte Herr Goljadkin in feierlichem Tone. »Siehst du, mein Lieber, es kommt alles mögliche vor. Kummer verbirgt sich auch in vergoldeten Palästen, mein Freund; dem kann man nirgendhin entfliehen. Du weißt, mein Freund, ich bin, wie ich meine, immer freundlich gegen dich gewesen...«