»Also... ja... Exzellenz,« sagte er, »durch Annahme eines fremden Namens kann man in unserm Zeitalter nicht mehr obenauf kommen.«
Der Chef antwortete nichts, sondern zog stark an der Klingelschnur. Unser Held trat noch einen Schritt vor.
»Er ist ein gemeiner, verworfener Mensch, Exzellenz,« sagte unser Held; er wußte nicht von sich selbst, war halbtot vor Angst, wies aber dabei doch kühn und entschlossen auf seinen unwürdigen Zwillingsbruder, der in diesem Augenblicke neben Seiner Exzellenz herumtrippelte. »Nämlich... ja... ich deute auf eine bestimmte Person hin.«
Herrn Goljadkins Worten folgte eine allgemeine Bewegung. Andrei Filippowitsch und der Unbekannte nickten mit den Köpfen; Seine Exzellenz riß ungeduldig aus Leibeskräften am Klingelzuge, um seine Leute herbeizurufen. Jetzt trat Herr Goljadkin der jüngere seinerseits vor.
»Exzellenz,« sagte er, »ich bitte untertänigst um Ihre Erlaubnis, reden zu dürfen.« In der Stimme des jüngeren Herrn Goljadkin lag eine außerordentliche Entschlossenheit; sein ganzes Benehmen zeigte, daß er sich vollständig in seinem Rechte fühlte.
»Gestatten Sie mir die Frage,« begann er von neuem, indem er in seinem Eifer der Antwort Seiner Exzellenz zuvorkam und sich diesmal an Herrn Goljadkin wandte, »gestatten Sie mir die Frage, ob Sie wohl auch wissen, in wessen Gegenwart Sie solche Ausdrücke gebrauchen. Vor wem stehen Sie, und in wessen Arbeitszimmer befinden Sie sich?...« Herr Goljadkin der jüngere war in höchster Erregung, ganz rot und heiß vor Empörung und Zorn; es wurden sogar Tränen in seinen Augen sichtbar.
»Die Herren Bassawrjukow!« schrie der Diener, der in der Tür des Arbeitszimmers erschien, aus voller Kehle. »Das ist eine gute Adelsfamilie, die aus Kleinrußland stammt,« dachte Herr Goljadkin und fühlte gleichzeitig, daß ihm jemand in sehr freundschaftlicher Weise die Hand auf den Rücken legte; dann legte sich ihm noch eine andere Hand auf den Rücken; Herrn Goljadkins nichtswürdiger Zwillingsbruder lief geschäftig voran und zeigte den Weg, und unser Held sah klar, daß man ihn nach der großen Tür des Arbeitszimmers hinführte. »Genau so wie bei Olsufi Iwanowitsch,« dachte er und fand sich schon im Vorzimmer. Um sich blickend, sah er neben sich zwei Diener Seiner Exzellenz und seinen Zwillingsbruder.
»Den Mantel, den Mantel, den Mantel, den Mantel meines Freundes! Den Mantel meines besten Freundes!« schnatterte der verworfene Mensch, indem er einem der Diener den Mantel aus den Händen riß und ihn mit diesen gemeinen, unanständigen Spottworten Herrn Goljadkin geradezu auf den Kopf warf. Während Herr Goljadkin der ältere sich aus seinem Mantel herauswickelte, hörte er deutlich das Gelächter der beiden Diener. Aber ohne auf etwas hinzuhören und Nebendinge zu beachten, verließ er das Vorzimmer und befand sich nun auf der erleuchteten Treppe. Herr Goljadkin der jüngere war ihm nachgekommen.
»Leben Sie wohl, Exzellenz!« rief er Herrn Goljadkin dem älteren nach.
»Schurke!« antwortete unser Held ganz außer sich.
»Na, ich lasse mir diese Bezeichnung gefallen...«
»Verworfener Mensch!...«
»Na, meinetwegen auch das...« erwiderte dem würdigen Herrn Goljadkin sein unwürdiger Feind spöttisch und blickte mit der ihm eigenen Niederträchtigkeit von der Höhe der Treppe gerade und ohne mit den Augen zu zwinkern Herrn Goljadkin in die Augen, wie wenn er ihn bäte fortzufahren. Unser Held spie vor Empörung aus und lief vor die Haustür; er war so zerschmettert, daß ihm gar nicht zum Bewußtsein kam, wer ihm beim Einsteigen in den Wagen half, und wie es dabei zuging. Als er seine Gedanken wieder gesammelt hatte, sah er, daß er an der Fontanka entlangfuhr. »Also wohl nach der Ismailowski-Brücke?« dachte er. Er hätte jetzt gern über noch etwas nachgedacht; aber das war ihm nicht möglich; es war etwas so Schreckliches, daß es sich gar nicht sagen läßt... »Nun, es macht nichts!« sagte sich unser Held schließlich und fuhr nach der Ismailowski-Brücke.
13. Kapitel
... Das Wetter schien sich bessern zu wollen. In der Tat begann der nasse Schnee, der bisher in dichten Massen gefallen war, allmählich spärlicher zu werden und hörte zuletzt fast ganz auf. Der Himmel wurde sichtbar, und hier und da glänzten an ihm die Sterne auf. Aber es war immer noch naß, schmutzig, feucht und drückend, namentlich für Herrn Goljadkin, der ohnehin schon nur mit Mühe Atem holen konnte. Sein durchnäßter, schwer gewordener Mantel teilte allen seinen Gliedern eine unangenehm-warme Feuchtigkeit mit und lähmte durch sein Gewicht seine sowieso schon recht schwach gewordenen Beine. Ein fieberhaftes Zittern lief ihm wie ein Gekribbel bissiger Ameisen über den ganzen Körper; die Ermattung ließ einen kalten, krankhaften Schweiß aus allen Poren heraustreten, so daß Herr Goljadkin sogar vergaß, bei dieser passenden Gelegenheit mit der ihm eigenen Festigkeit und Entschlossenheit seine Lieblingsredensart zu wiederholen, daß er dennoch vielleicht, möglicherweise, irgendwie, wahrscheinlich, unbedingt obsiegen und alles sich gut gestalten werde. »Übrigens macht das alles vorläufig noch nichts,« fügte unser starker, noch ungebeugter Held hinzu und wischte sich die kalten Wassertropfen vom Gesichte, die nach allen Seiten von der Krämpe seines runden Hutes herabflossen, der dermaßen durchnäßt war, daß er das Wasser nicht mehr festhalten konnte. Nachdem unser Held noch hinzugefügt hatte, daß das alles noch nichts zu bedeuten habe, versuchte er, sich auf einen ziemlich dicken Holzklotz zu setzen, der auf Olsufi Iwanowitschs Hofe neben einem Haufen Holz lag. Von spanischen Serenaden und seidenen Strickleitern konnte jetzt allerdings nicht die Rede sein; aber er konnte nicht umhin, an jenes bescheidene Winkelchen zurückzudenken, das zwar nicht sehr warm, aber dafür bequem und verborgen gewesen war. Denn jenes Winkelchen hatte, beiläufig bemerkt, jetzt viel Verlockendes für ihn, jenes Winkelchen auf dem Flur von Olsufi Iwanowitschs Wohnung, wo unser Held früher, beinah am Anfang dieser wahrhaften Geschichte, volle zwei Stunden lang zwischen einem Schranke und einem alten Wandschirm, zwischen allerlei unbrauchbarem Hausrat, Trödelkram und Gerümpel gestanden hatte. Die Sache war die, daß auch jetzt Herr Goljadkin bereits ganze zwei Stunden auf Olsufi Iwanowitschs Hofe stand und wartete. Aber was eine nochmalige Benutzung jenes früheren bescheidenen, bequemen Winkelchens anlangte, so gab es da jetzt mehrere Hindernisse, die es früher nicht gegeben hatte. Das erste Hindernis bestand darin, daß man dieses Plätzchen wahrscheinlich seinerzeit bemerkt und seit der Affäre auf dem letzten Balle bei Olsufi Iwanowitsch einige vorbeugende Maßregeln getroffen hatte; und zweitens mußte er doch auf das verabredete Zeichen von Klara Olsufjewna warten; denn irgendein solches verabredetes Zeichen mußte doch unbedingt dabei vorkommen. So war es immer zugegangen, und er sagte sich: »Wir sind nicht die ersten, die es so machen, und werden nicht die letzten sein.« Herr Goljadkin erinnerte sich hierbei sehr apropos flüchtig an einen Roman, den er schon vor langer Zeit einmal gelesen hatte, wo die Heldin ihrem Alfred in ganz ähnlicher Lage das verabredete Zeichen dadurch gab, daß sie ein rosa Band ans Fenster knüpfte. Aber ein rosa Band konnte jetzt zur Nachtzeit und bei dem durch seine Feuchtigkeit und Unzuverlässigkeit bekannten Petersburger Klima nicht zur Anwendung kommen; das war, kurz gesagt, völlig unmöglich. »Nein, seidene Strickleitern kommen hier nicht in Frage,« hatte unser Held gedacht, als er auf den Hof kam; »ich werde mich lieber hierher stellen, ganz allein, bescheiden und in der Stille... z. B. hier an diesen Platz,« und er hatte sich ein Plätzchen auf dem Hofe ausgesucht, den Fenstern gerade gegenüber, bei einem aufgeschichteten Holzhaufen. Allerdings gingen auf dem Hofe viele fremde Leute umher, Stallknechte, Kutscher; dazu rasselten die Räder, schnaubten die Pferde usw.; aber trotzdem war der Platz wohlgeeignet: ob man ihn nun bemerkte oder nicht, jetzt wenigstens war der Vorteil der, daß die Sache gewissermaßen im Schatten vor sich ging und niemand Herrn Goljadkin sah, während er selbst geradezu alles sehen konnte. Die Fenster waren hell erleuchtet; es war eine vornehme Gesellschaft bei Olsufi Iwanowitsch. Musik war übrigens noch nicht zu hören. »Also findet kein Ball statt, sondern es sind aus irgendwelchem andern Anlaß Gäste geladen,« dachte unser Held beklommenen Herzens. »Aber sollte es denn auch heute sein?« ging es ihm durch den Kopf; »liegt auch kein Irrtum im Datum vor? Es könnte doch sein; möglich ist alles... Vielleicht war der Brief gestern geschrieben, gelangte aber gestern nicht in meine Hände, und zwar deswegen nicht, weil sich Petruschka da hineingemischt hat, dieser Halunke! Oder er war morgen geschrieben, d. h. es stand darin, daß ich... daß ich erst morgen alles tun sollte, d. h. mit dem Wagen warten sollte...« Hier überlief es unsern Helden ganz kalt, und er griff in die Tasche, um den Brief herauszuholen und die Sache festzustellen. Aber zu seiner Verwunderung fand sich der Brief in der Tasche nicht vor. »Wie geht das zu?« flüsterte Herr Goljadkin mehr tot als lebendig. »Wo habe ich ihn nur gelassen? Also habe ich ihn verloren? Das hat noch gefehlt!« stöhnte er schließlich. »Wenn er nun aber jetzt in schlechte Hände fällt? (Ja, vielleicht ist er schon in schlechte Hände gefallen!) Herr Gott! Was kann das für Folgen haben! Die Folge wird sein, daß... O über mein unglückseliges Schicksal!« Hier begann Herr Goljadkin wie Espenlaub zu zittern bei dem Gedanken, daß vielleicht sein unehrenhafter Zwillingsbruder, als er ihm den Mantel auf den Kopf warf, dabei gerade die Absicht verfolgt habe, den Brief zu entwenden, von dessen Existenz er irgendwie durch Herrn Goljadkins Feinde Wind bekommen habe. »Er wird ihn als Beweisstück weggenommen haben,« dachte unser Held; »und was für ein schwerwiegendes Beweisstück ist er!...« Nach dem ersten Anfall des Schreckens und der Erstarrung stieg Herrn Goljadkin das Blut in den Kopf. Stöhnend und zähneknirschend griff er sich an seine glühende Stirn, ließ sich auf seinen Holzklotz niedersinken und begann über etwas nachzudenken. Aber die Gedanken in seinem Kopfe vermochten nicht an einem Gegenstande haften zu bleiben. Irgendwelche Persönlichkeiten huschten vor seinem geistigen Auge vorüber; irgendwelche längst vergessenen Ereignisse kamen ihm bald undeutlich, bald klar ins Gedächtnis; irgendwelche Melodien dummer Lieder gingen ihm durch den Kopf... Es war eine Pein, eine unnatürliche Pein! »Mein Gott, mein Gott!« dachte unser Held, als er einigermaßen zur Besinnung kam, und suchte das dumpfe Schluchzen in seiner Brust zu ersticken, »gib mir festen Mut bei der unergründlichen Tiefe meines Unglücks! Daß ich verloren bin, ganz vernichtet bin, daran kann kein Zweifel mehr bestehen, und das liegt ganz im natürlichen Laufe der Dinge; es kann eben nicht anders sein. Erstens habe ich meine Stelle verloren, unbedingt verloren, ich mußte sie mit Notwendigkeit verlieren... Nun, einigermaßen werde ich allerdings auch dann zurechtkommen. Mein Geld reicht fürs erste aus: ich nehme mir eine andere, kleine Wohnung... Petruschka wird nicht mehr bei mir sein. Ich kann mich auch ohne diesen Halunken behelfen... ich lebe dann eben als Chambregarnist; nun gut! Dann kann ich auch kommen und gehen, wann ich Lust habe, und kein Petruschka wird darüber brummen, daß ich zu spät nach Hause komme. Ja, so ist das; das ist ein Vorzug des Chambregarnistentums... Nun, das ist ja allerdings alles ganz gut; aber warum rede ich gar nicht über das, worauf es ankommt?« Hier erhellte der Gedanke an die gegenwärtige Lage wieder Herrn Goljadkins Gedächtnis. Er blickte um sich. »Ach, Herr du mein Gott! Herr du mein Gott! Wovon rede ich denn da jetzt?« dachte er ganz verstört und griff sich an den glühenden Kopf...