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Tad Willams

Der Drachenbeinthron

Vorbemerkung des Verfassers

»Ich habe mir eine Aufgabe zur Freude der Menschen gestellt und zum Wohlgefallen der edlen Herzen, für die Herzen, zu denen ich mich hingezogen fühle, für die Menschen, in die ich hineinsehe. Ich meine nicht alle Menschen; nicht die, von denen ich höre, daß sie keinen Schmerz ertragen können und nur in Freude leben wollen. Die lasse auch Gott in Freude leben! Diesen Menschen und diesem Leben ist meine Erzählung unbequem: ihr Leben und das meine gehen auseinander. Ich meine andere Menschen, und zwar die, die in sich vereint tragen ihre süße Bitterkeit, ihr angenehmes Leid, ihre innige Liebe, ihren sehnsüchtigen Schmerz, ihr angenehmes Leben, ihren leidvollen Tod, ihren angenehmen Tod, ihr leidvolles Leben. Dieses Leben erstrebe ich, zu diesen Menschen will ich gehören, mit ihnen sterben oder leben.«

Gottfried von Straßburg, Prolog zu Tristan und Isolde

Dieses Werk wäre ohne die Hilfe vieler Menschen nicht möglich gewesen. Mein Dank gilt Eva Cumming, Nancy Deming-Williams, Arthur Ross Evans, Peter Stampfel und Michael Whelan, die alle ein entsetzlich langes Manuskript lasen und mir dann Unterstützung, nützlichen Rat und gescheite Anregungen spendeten; er gilt auch Andrew Harris für logistische Hilfe weit über den Rahmen jeder Freundschaft hinaus; und vor allem meinen Lektorinnen Betsy Wollheim und Sheila Gilbert, die so lange und hart daran mitgearbeitet haben, daß ich das beste Buch schrieb, das ich schreiben konnte.

Zueignung

Dieses Buch ist meiner Mutter Barbara Jean Evans gewidmet, die mir die innige Zuneigung zu Krötenburg, den Hundertackerwäldern, dem Auenland und vielen anderen verborgenen Orten und Ländern jenseits der bekannten Felder vermittelt hat. Sie hat auch die tiefe Sehnsucht in mich gelegt, selbst Dinge zu entdecken und andere daran teilhaben zu lassen. Ich möchte dieses Buch mit ihr teilen.

Warnung des Verfassers

Wanderer im Lande Osten Ard werden davor gewarnt, sich blind auf alte Regeln und Formen zu verlassen; sie sollten alle Rituale sorgsam beobachten, denn oft verlarvt der Schein das Sein.

Das Qanuc-Volk der schneebedeckten Troll-Fjälle hat ein Sprichwort: »Wer davon überzeugt ist, das Ende der Dinge zu wissen, die er gerade erst beginnt, ist entweder außerordentlich weise oder ganz besonders töricht; so oder so ist er aber gewiß ein unglücklicher Mensch, denn er hat dem Wunder ein Messer ins Herz gestoßen.«

Um es deutlicher zu sagen: Wer zum ersten Mal dieses Land besucht, sollte sich vor voreiligen Schlüssen hüten.

Die Qanuc pflegen auch zu sagen: »Willkommen, Fremder. Die Pfade sind tückisch heute.«

Vorwort

»… Das Buch des wahnsinnigen Priesters, so sagen jene, die es in Händen gehalten haben, ist sehr groß und so schwer wie ein kleines Kind. Man entdeckte es an der Seite von Nisses, der tot und lächelnd neben dem Turmfenster lag, aus dem vor wenigen Augenblicken sein Gebieter, König Hjeldin, in den Tod gesprungen war.

Die rostbraune Tinte, gebraut aus Lammsblatt, Nieswurz und Raute – und aus einer noch röteren, dunkleren Flüssigkeit –, ist trocken und flockt leicht von den dünnen Seiten. Die unverzierte Haut eines haarlosen Tieres von nicht festzustellender Gattung bildet den Einband.

Diejenigen der heiligen Männer von Nabban, die es nach Nisses' Dahinscheiden lasen, erklärten es für ketzerisch und gefährlich, aber aus irgendeinem Grund verbrannten sie es nicht, wie es üblicherweise mit solchen Schriften geschieht. Statt dessen ruhte es viele Jahre in den schier unendlichen Archiven der Mutter Kirche, in den tiefsten, geheimsten Gewölben der Sancellanischen Ädonitis. Nun aber scheint es aus der Onyxschatulle, in der es bewahrt wurde, verschwunden zu sein; der (zu keiner Zeit geschwätzige) Orden der Archive gibt über den jetzigen Verbleib nur unbestimmte Auskünfte.

Einige Leser von Nisses' ketzerischem Werk behaupten, daß alle Geheimnisse Osten Ards darin enthalten seien, von der düsteren Vergangenheit dieses Landes bis zu den Schatten der Dinge im Schoß der Zukunft. Die ädonitischen Prüfpriester sagen nur, der Inhalt sei ›unheilig‹.

In der Tat mag es stimmen, daß Nisses' Schriften das Kommende so deutlich – und man darf annehmen: so absonderlich – voraussagen, wie sie das Gewesene aufzeichnen. Man weiß jedoch nicht, ob die großen Taten unserer Zeit – vor allem, soweit es uns betrifft, Aufstieg und Triumph von Johan dem Priester – Teil der Aufzeichnungen Nisses' sind, obwohl gewisse Andeutungen dafür sprechen. Vieles von dem, was er schreibt, ist geheimnisvoll und verbirgt seinen Sinn in seltsamen Reimen und dunklen Anspielungen. Ich habe niemals das ganze Werk gelesen, und viele, die es getan haben, sind schon lange tot.

Das Buch trägt, in den kalten, harten Runen von Nisses' Geburtsstätte hoch im Norden, den Titel DU SVARDENVYRD, was soviel heißt wie Das Verhängnis der Schwerter…«

aus Leben und Regierung König Johan Presbyters von Morgenes Ercestres

ERSTER TEIL

Simon Mondkalb

I

Grashüpfer und König

An diesem Tag aller Tage rührte sich etwas Fremdartiges tief im dämmernden Herzen des Hochhorstes, im verwirrenden Kaninchenbau der Burg mit ihren stillen Gängen und efeuüberwucherten Höfen, in den Mönchsverstecken und den feuchten, schattendunklen Kammern. Höflinge und Dienerschaft, sie alle rissen die Augen auf und flüsterten, Küchenjungen tauschten über den Waschwannen bedeutungsvolle Blicke. In allen Gängen und Torhöfen der gewaltigen Feste schienen sich Menschen mit gedämpfter Stimme zu unterhalten.

Der allgemeinen Stimmung atemloser Erwartung nach hätte es der erste Frühlingstag sein können, aber der große Kalender in Doktor Morgenes' vollgestopftem Zimmer zeigte etwas anderes: Man befand sich erst im Monat Novander. Der Herbst hielt die Tür auf, und langsam wanderte der Winter herein.

Was diesen Tag von allen anderen unterschied, war nicht die Jahreszeit, sondern ein Ort: der Thronsaal auf dem Hochhorst. Drei lange Jahre waren seine Pforten auf Befehl des Königs geschlossen gewesen, die buntfarbigen Fenster von schweren Vorhängen verhüllt. Nicht einmal die mit der Hausreinigung betraute Dienerschaft hatte die Schwelle übertreten dürfen, was der obersten Kammerfrau unendliche persönliche Qualen bereitet hatte. Drei Sommer und drei Winter war der Saal ungestört geblieben. Jetzt stand er nicht mehr leer, und die ganze Burg summte von Gerüchten.

Um die Wahrheit zu sagen, es gab einen Menschen im geschäftigen Hochhorst, einen zumindest, der nicht seine ganze Aufmerksamkeit auf jenen lange unbewohnten Raum gerichtet hatte, eine Biene im murmelnden Stock, deren einsames Lied nicht zur Tonart des größeren Gesumms paßte. Dieser eine hockte im Herzen des Heckengartens in einer Nische zwischen dem stumpfroten Stein der Kapelle und der Flanke eines zum Skelett entlaubten Heckenlöwen und glaubte, niemand werde ihn vermissen. Der Tag war bisher recht unerfreulich verlaufen – die Frauen steckten alle mitten in ihrer Arbeit und hatten wenig Zeit, Fragen zu beantworten, es hatte zu spät Frühstück gegeben, und kalt war es auch noch gewesen. Wie gewöhnlich hatte man ihm verwirrende Anordnungen erteilt, und niemand hatte auch nur ein bißchen Zeit auf seine Probleme verwendet …

Das war, dachte er mürrisch, ja auch nicht anders zu erwarten. Wenn er nicht diesen riesigen, prachtvollen Käfer entdeckt hätte – der da durch den Garten gekrochen war, selbstzufrieden wie ein erfolgreicher Dorfbewohner –, wäre der ganze Nachmittag eine einzige Zeitvergeudung gewesen.

Mit einem Zweig verbreiterte er die winzige Straße, die er in die dunkle, kalte Erde an der Mauer gekratzt hatte, aber trotzdem wollte der Gefangene nicht vorwärtslaufen. Vorsichtig kitzelte er den glänzenden Panzer, aber der dickköpfige Käfer rührte sich nicht. Der Junge runzelte die Stirn und sog an der Oberlippe.