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»Und warum streitet Ihr Euch jetzt deswegen?«

Morgenes starrte sie einen Moment an und blinzelte zweimal.

»Ihr habt vollständig recht«, erwiderte er und wandte sich wieder dem Bett zu. »Ich werde das Kind retten, Susanna«, erklärte er der zitternden Frau.

Sie nickte einmal mit dem Kopf und schrie dann laut auf.

Es war ein dünnes, klagendes Jammern, aber es war das Geschrei eines lebendigen Säuglings. Morgenes reichte Elispeth das winzige, rotverschmierte Geschöpf.

»Ein Junge«, erklärte er und widmete seine Aufmerksamkeit wieder der Mutter. Sie war jetzt ruhig und atmete langsamer, aber ihre Haut war weiß wie Harcha-Marmor.

»Ich habe ihn gerettet, Susanna. Ich mußte es tun«, flüsterte er. Die Mundwinkel der Frau zuckten – es hätte ein Lächeln sein können.

»Ich … weiß…«, hauchte sie, und die Stimme aus ihrer wunden Kehle klang ganz, ganz leise. »Wenn nur … mein Eahlferend … nicht…« Die Anstrengung war zu groß, und sie verstummte.

Elispeth beugte sich hinunter, um ihr das Kind zu zeigen, in Decken gewickelt, noch am blutigen Nabel hängend.

»Er ist klein«, lächelte die Alte, »aber das liegt daran, daß er so früh gekommen ist. Wie ist sein Name?«

»Nennt … ihn … Seoman…«, krächzte Susanna heiser, »das heißt … ›wartend‹ …« Sie drehte sich zu Morgenes um und schien noch etwas sagen zu wollen. Der Doktor neigte sich tiefer, bis sein weißes Haar ihre schneeblasse Wange streifte, aber sie konnte die Worte nicht mehr herausbringen. Gleich darauf keuchte sie einmal, und die dunklen Augen rollten nach hinten, bis man das Weiße sah. Das Mädchen, das ihre Hand hielt, begann zu schluchzen.

Auch Rachel fühlte, daß ihr Tränen in die Augen stiegen. Sie machte kehrt und tat, als finge sie an aufzuräumen. Elispeth durchtrennte die letzte Verbindung zwischen dem Kind und seiner sterbenden Mutter. Die Bewegung ließ Susannas rechte Hand, die sie fest in die eigenen Haare gekrallt hatte, heruntersinken und schlaff zu Boden fallen. Die Finger öffneten sich und gaben etwas Glänzendes preis, das über die rohen Dielen rollte, bis es neben dem Fuß des Doktors liegenblieb. Aus dem Augenwinkel sah Rachel, wie Morgenes sich bückte und den Gegenstand aufhob. Er war klein und verschwand leicht in der Handfläche des Doktors und von dort in seiner Arzttasche.

Rachel war empört, aber niemand sonst schien den Vorfall bemerkt zu haben. Sie wirbelte herum, um ihn zur Rede zu stellen, die Augen noch voller Tränen. Aber der Ausdruck in seinem Gesicht, der furchtbare Gram, brachten sie zum Verstummen, ehe sie noch ein Wort gesagt hatte.

»Seoman soll er heißen«, erklärte der Doktor mit heiserer Stimme, und als er näherkam, waren seine Augen voll fremdartiger Schatten. »Ihr müßt für ihn sorgen, Rachel. Seine Eltern sind nämlich tot.«

Ein schneller Atemzug. Rachel hatte sich gerade noch gefangen, bevor sie vom Hocker rutschte. Am hellichten Tag einzunicken – sie schämte sich für sich selbst! Aber das zeigte eben nur, wie sträflich sie sich heute abgerackert hatte, nur um einen Ausgleich für das Fehlen der drei Mädchen zu schaffen … und für Simon.

Was sie brauchte, war ein bißchen frische Luft. Auf einem Hocker zu stehen und wie eine Verrückte mit dem Besen herumzufuchteln – kein Wunder, wenn man dabei melancholisch wurde. Sie mußte einfach einen Augenblick hinaus ins Freie; sie hatte weiß Gott ein Recht auf frische Luft. Was war dieser Simon doch für ein Nichtsnutz!

Natürlich hatten sie ihn großgezogen, sie und die Kammerfrauen. Susanna hatte keine Verwandtschaft in der Nähe, und über ihren ertrunkenen Mann, Eahlferend, schien überhaupt niemand so recht etwas zu wissen; also blieb der Junge auf dem Hochhorst. Rachel hatte so getan, als mache sie einen Riesenaufstand deshalb, aber sie hätte ihn ebensowenig fortgelassen, wie sie ihren König verraten oder die Betten nicht gemacht hätte. Rachel war es auch, die ihm den Namen Simon gegeben hatte. Alle, die in königlichen Diensten standen, nahmen einen Namen von Warinsten, der Heimatinsel König Johans, an. ›Simon‹ klang am ehesten wie ›Seoman‹, also blieb es bei diesem Namen.

Rachel stieg langsam die Stufen zum Erdgeschoß hinunter. Sie fühlte sich ein ganz klein wenig wacklig auf den Beinen und wünschte, sie hätte einen Mantel mitgenommen, denn die Luft würde recht beißend sein. Die Tür knarrte – eine schwere Tür, deren Angeln wohl wieder einmal geölt werden mußten –, und Rachel trat in den Eingangshof. Die Morgensonne lugte eben erst über die Zinnen und spähte herein wie ein Kind.

Die Kammerfrau mochte diesen Ort, gerade unter dem steinernen Übergang, der den Speisesaal mit dem Hauptbau der Kapelle verband. Der kleine Hofgarten im Schatten des Überganges war voller Kiefern und Heidekraut, verteilt auf kleine, sanft ansteigende Hügel; der ganze Garten war nicht mehr als einen Steinwurf lang. Wenn sie nach oben schaute, über den steinernen Laufgang hinüber, konnte sie den nadelspitz aufragenden Grünengel-Turm sehen, der weiß in der Sonne glänzte wie ein elfenbeinerner Stoßzahn.

Es hatte eine Zeit gegeben, erinnerte sich Rachel, lange vor Simons Geburt, in der sie selbst ein Mädchen gewesen war und in diesem Garten gespielt hatte. Wie manche von ihren Mägden darüber lachen würden – allein der Gedanke: der Drache als kleines Mädchen! Aber das war sie gewesen, und danach eine junge Dame – und keineswegs unansehnlich, auch das war nichts als die Wahrheit. Damals war der Garten erfüllt gewesen vom Rauschen der Brokate und Seiden, vom Lachen der vornehmen Herren und ihrer Damen, die den Falken auf der Faust und ein heiteres Lied auf den Lippen gehabt hatten.

Simon dagegen, der immer glaubte, er wüßte schon alles – Gott schuf junge Männer eben dumm, und damit hatte es sich. Diese Mädchen hatten ihn fast unrettbar verzogen und hätten es ganz geschafft, wenn Rachel nicht ein Auge auf ihn gehabt hätte. Sie wußte, was sich gehörte, auch wenn diese jungen Dinger anderer Meinung waren.

Früher war alles anders, dachte Rachel … und bei dem Gedanken wollte der Kiefernduft des schattigen Gartens ihr das Herz zusammenschnüren. Ein wunderbarer, aufregender Ort war die Burg gewesen: hochgewachsene Ritter mit Helmbüschen und schimmernden Rüstungen, und schöne Mädchen in prächtigen Kleidern, und die Musik … ach, und erst der Turnierplatz, juwelenbunt von Zelten! Jetzt lag die Burg in tiefem Schlaf und träumte nur. Über die hochragenden Zinnen herrschten Leute wie Racheclass="underline" Köche und Köchinnen, Kammerfrauen, Seneschälle und Küchenjungen …

Wirklich, es war etwas kühl. Rachel beugte sich vor, zog ihr Umschlagtuch enger und richtete sich dann jäh auf. Sie starrte auf Simon, der, die Hände auf dem Rücken versteckt, vor ihr stand. Wie in aller Welt war es ihm gelungen, sich ganz unbemerkt anzuschleichen? Und warum hatte er so ein idiotisches Grinsen im Gesicht? Rachel fühlte, wie die Stärke des Gerechten in ihren Körper zurückflutete. Sein Hemd, noch vor einer Stunde sauber, war schwarz von Schmutz und an mehreren Stellen zerrissen, ebenso die Hosen.

»Gesegnete Sankt Rhiap, steh mir bei!« kreischte Rachel. »Was hast du angestellt, Dummkopf?« Rhiappa, eine Ädoniterin aus Nabban, war, von Seepiraten mehrfach geschändet, mit dem Namen des Einen Gottes auf den Lippen gestorben. Sie erfreute sich bei Dienstboten großer Beliebtheit.

»Schau, was ich habe, Rachel!« sagte Simon und zeigte ihr einen zerfetzten, windschiefen Strohkegeclass="underline" ein Vogelnest, das schwache Pieptöne von sich gab. »Ich habe es unter dem Hjeldin-Turm gefunden. Der Wind muß es heruntergeweht haben. Drei leben noch, und die will ich aufziehen!«

»Bist du denn ganz und gar von Sinnen!« Rachels Besen sauste durch die Lüfte wie die strafenden Blitze des Herrn, die zweifellos Rhiaps Vergewaltiger vernichtet hatten. »Du wirst diese Kreaturen so wenig in meinem Haushalt aufziehen, wie ich vorhabe, nach Perdruin zu schwimmen! Schmutzige Biester, die überall herumflattern und den Leuten in die Haare gehen – und sieh dir deine Kleider an! Weißt du eigentlich, wie lange Sarrah brauchen wird, bis sie das alles wieder geflickt hat?«