Simon schlug die Augen nieder. Natürlich hatte er das Nest nicht auf der Erde gefunden. Es war jenes, das er im Heckengarten entdeckt hatte, halb von seinem Platz auf der Festeiche heruntergerutscht. Er war hinaufgeklettert, um es zu retten, und hatte vor lauter Aufregung bei der Vorstellung von eigenen jungen Vögeln überhaupt nicht an die Arbeit gedacht, die er Sarrah damit machte, dem stillen Mädchen, das die Sachen der Dienstboten ausbesserte. Eine Woge von Schwermut und ohnmächtigem Zorn überschwemmte ihn.
»Aber Rachel, ich habe auch daran gedacht, die Binsen zu pflücken!« Vorsichtig hielt er das Nest im Gleichgewicht und zog unter dem Wams ein mageres, zerzaustes, verklumptes Schilfbündel hervor.
Rachels Miene wurde ein wenig weicher, aber die gerunzelten Brauen blieben. »Du denkst einfach nicht nach, Junge, du denkst nicht nach – du bist wie ein kleines Kind. Wenn etwas kaputtgeht oder zu spät getan wird, muß jemand die Verantwortung dafür übernehmen. So geht es nun einmal zu in der Welt. Ich weiß, daß du es nicht wirklich böse meinst, aber muß du bei-unserer-lieben-Frau so dumm sein?«
Simon sah vorsichtig auf. Obwohl sein Gesicht noch das richtige Maß von Kummer und Reue zeigte, konnte Rachel mit ihrem Basiliskenblick erkennen, daß er das Schlimmste überstanden zu haben glaubte. Ihre Brauen zogen sich von neuem finster zusammen.
»Es tut mir leid, Rachel, wirklich, es tut mir leid«, sagte er.
Sie streckte den Arm aus und stieß ihm den Besenstiel gegen die Schulter. »Komm mir nicht mit deinem ewigen ›Tut-mir-leid‹. Schaff diese Vögel fort und setz sie wieder dahin, wo du sie hergenommen hast. Hier drinnen gibt es keine flatternden, fliegenden Biester.«
»Ach, Rachel! Ich könnte sie doch in einen Käfig tun. Ich werde einen bauen!«
»Nein, nein und nochmals nein. Nimm sie und bring sie deinem nichtsnutzigen Doktor, wenn du willst, aber trag sie nicht hierher, um damit anständige Leute zu ärgern, die ihre Arbeit tun müssen.«
Simon trottete davon, das Nest in den hohlen Händen. Irgendwo hatte er einen Fehler gemacht – Rachel hätte fast nachgegeben, aber sie war eine harte, alte Nuß. Der kleinste Irrtum im Umgang mit ihr bedeutete eine schnelle und schreckliche Niederlage.
»Simon!« rief sie ihm nach. Er wirbelte herum.
»Ich kann sie behalten?«
»Natürlich nicht! Sei kein Mondkalb.« Sie schaute ihn durchdringend an. Eine unbehaglich lange Weile verging; Simon trat von einem Fuß auf den anderen und wartete.
»Du wirst künftig für den Doktor arbeiten, Junge«, sagte sie dann endlich. »Vielleicht kann er dir ein bißchen Verstand eintrichtern. Ich bin es leid.« Sie warf ihm einen finsteren Blick zu. »Denk aber daran, daß du tust, was er dir sagt, und dich bei ihm – und bei dem bißchen Glück, das dir noch übrigbleibt – für diese einzige und letzte Chance bedankst. Verstanden?«
»Ja, gewiß«, antwortete er glücklich.
»So leicht entkommst du mir nicht. Sei zum Abendessen zurück.«
»Ja, Herrin!« Simon drehte sich um und wollte zu Morgenes rennen, blieb aber noch einmal stehen und wandte sich der obersten Kammerfrau zu: »Danke, Rachel.«
Rachel stieß einen angewiderten Laut aus und marschierte zur Speisesaaltreppe zurück. Simon wunderte sich über die vielen Kiefernnadeln, die in ihrem Tuch hingen.
Ein sanfter Schneenebel begann aus den tiefhängenden, zinnfarbenen Wolken herabzuschweben. Das Wetter hatte sich endgültig geändert, das wußte Simon: Jetzt würde es bis Lichtmeß ständig kalt sein. Anstatt die Vogelkinder über den zugigen Hof zu tragen, zog er es vor, durch die Kapelle zu huschen und so zur Westseite des Inneren Zwingers zu gelangen. Die Morgenandacht war schon lange vorüber, und die Kirche mußte eigentlich leer sein. Vielleicht würde Vater Dreosan es nicht sonderlich schätzen, wenn Simon durch sein Reich trampelte, aber der gute Vater saß jetzt ganz bestimmt bei Tisch, widmete sich seinem üblichen, umfangreichen zweiten Frühstück und stieß bedrohliche Summtöne über die Qualität der Butter oder die Zusammensetzung des Honig-und-Brot-Puddings aus.
Simon stieg die zwei Dutzend Stufen zur Seitentür der Kapelle hinauf. Der graue Stein der Türumfassung war mit den nassen Überresten sterbender Schneeflocken besetzt. Die Tür schwang überraschend geräuschlos nach innen.
Um keine verräterischen nassen Fußabdrücke auf den Steinfliesen der Kapelle zu hinterlassen, schob Simon sich durch die Samtvorhänge an der Rückseite des Vorraumes und kletterte die Stiege zur Chor-Empore hinauf.
Die vollgestopfte, stickige Empore, im Hochsommer ein dampfender Folterkasten, war jetzt angenehm warm. Der Fußboden war übersät mit dem Abfall der Mönche, Kleinkram: Nußschalen, ein Apfelrest, Stückchen von Schiefertafeln, auf die – ein läßlicher Verstoß wider das Schweigegelübde – Botschaften gekritzelt waren; es sah mehr nach einem Käfig für Affen oder Tanzbären aus als nach einem Raum, in dem Gottesmänner zusammenkamen, um das Lob des Herrn zu singen. Simon lächelte und suchte sich leise einen Weg durch die zahlreichen anderen merkwürdigen Dinge, die da verstreut umherlagen – Ballen schlichten Tuchs, ein paar kleine, wacklige Holzschemel. Es war nett zu wissen, daß diese mürrisch aussehenden Männer mit ihren kahlrasierten Köpfen so widerspenstig sein konnten wie Bauernjungen.
Aufgeschreckt von den plötzlichen Lauten eines Gesprächs, blieb Simon stehen und drückte sich in den Wandvorhang, der den hinteren Teil der Empore abschloß. In das staubige Tuch gepreßt, hielt er den Atem an, und sein Herz raste. Wenn Vater Dreosan oder der Küster Barnabas dort unten waren, würde er es nie schaffen, unbemerkt wieder herunter- und zur Hintertür hinauszugelangen. Dann mußte er sich dort, wo er hineingekommen war, auch wieder hinausschleichen und doch den Weg über den Hof nehmen – der Meisterspion im feindlichen Lager.
Jeden Laut vermeidend, strengte Simon die Ohren an, um den Standort der Sprecher herauszufinden. Es waren zwei Stimmen, die er zu hören schien. Während er sich konzentrierte, piepten die Vögelchen in seiner Hand ganz leise. Er kauerte sich nieder, ließ das Nest einen Augenblick achtsam in seiner Ellenbogenbeuge ruhen und nahm den Hut ab – um so schlimmer für ihn, wenn ihn Vater Dreosan mit Hut in der Kapelle erwischte! Als er die weiche Krempe von oben über das Nest stülpte, verstummten die Vogelkinder, als sei es Nacht geworden. Mit größter Vorsicht teilte Simon die Vorhangränder und steckte den Kopf hindurch. Die Stimmen kamen aus dem Mittelgang vor dem Altar und klangen unverändert; man hatte ihn nicht gehört.
Nur wenige Fackeln brannten. Das gewaltige Dach der Kapelle lag fast völlig im Schatten, die schimmernden Fenster der Kuppel schienen an einem Nachthimmel zu schweben, Löcher in der Dunkelheit, durch die man die Umrisse des Himmels sehen konnte. Simon, seine Findlinge wohlbehütet unter dem Hut wissend, kroch auf lautlosen Füßen zum Emporengeländer. Dort hockte er sich in die schattendunkle Ecke neben der Treppe, die in die eigentliche Kapelle hinunterführte, und steckte das Gesicht zwischen die geschnitzten Säulen der Balustrade, die eine Wange am Martyrium des heiligen Tunath, während die andere die Geburt der heiligen Pelippa von der Insel streifte.
»… und du mit deinem gottverfluchten Gejammer«, schimpfte eine der Stimmen. »Ich habe es unaussprechlich satt!« Simon konnte das Gesicht des Sprechers nicht sehen; er kehrte der Empore den Rücken zu und trug einen Mantel mit hohem Kragen. Seinen Gefährten jedoch, der ihm gegenüber auf einer Kirchenbank zusammengesunken war, konnte Simon deutlich ausmachen und erkannte ihn sofort.
»Leute, denen man etwas sagt, das sie nicht gern hören, sprechen oft von ›Gejammer‹, Bruder«, sagte der auf der Bank und bewegte müde die schlankfingrige Linke. »Aus Liebe zum Reich warne ich dich vor diesem Priester.« Einen Augenblick Schweigen. »Und im Gedenken an die Zuneigung, die uns einmal verbunden hat.«