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»Du kannst alles sagen, alles, was du willst!« bellte der erste Mann, und sein Zorn klang sonderbar nach Schmerz. »Aber der Thron gehört mir, nach dem Gesetz und dem Wunsch unseres Vaters. Nichts, was du denkst, sagst oder tust, kann daran etwas ändern!«

Josua Ohnehand, wie Simon den jüngeren Sohn des Königs oft hatte nennen hören, erhob sich steif von der Bank. Sein perlgraues Wams und die Beinkleider zeigten kunstvolle Muster in Rot und Weiß; er trug das braune Haar kurz ums Gesicht und hoch aus der Stirn gestutzt.

»Ich will den Drachenbeinthron nicht, glaub mir das, Elias«, zischte er. Seine Worte waren höflich, aber sie flogen in Simons Versteck wie Pfeile. »Ich warne dich lediglich vor Pryrates, einem Mann mit … ungesunden Neigungen. Bring ihn nicht hierher, Bruder. Er ist gefährlich – glaub mir, denn ich kenne ihn von früher, aus der Usires-Priesterschule von Nabban. Die Mönche dort mieden ihn wie einen Pestüberträger. Und doch leihst du ihm noch immer dein Ohr, als wäre er vertrauenswürdig wie Herzog Isgrimnur oder der alte Herr Fluiren. Sei kein Narr! Er wird der Untergang unseres Hauses sein.« Josua nahm sich zusammen. »Ich will nur eines: dir einen aufrichtigen Rat geben. Bitte, hör auf mich. Ich habe keinerlei Absichten auf den Thron.«

»Dann verlaß die Burg!« knurrte Elias und drehte seinem Bruder den Rücken zu, die Arme über der Brust verschränkt. »Geh, damit ich mich darauf vorbereiten kann, zu herrschen wie ein Mann – ohne dein Gejammer und deine Ratschläge.«

Der ältere Prinz hatte die gleiche hohe Stirn und Adlernase, war jedoch weit kräftiger gebaut als Josua; er sah aus wie ein Mann, der mit bloßen Händen ein Genick zerbrechen kann. Seine Haare, ebenso wie Reitstiefel und Wams, waren schwarz, Mantel und Beinkleid, vom Reisestaub fleckig, grün.

»Wir sind beide unseres Vaters Söhne, o zukünftiger König…« In Josuas Lächeln lag Spott. »Die Krone ist von Rechts wegen dein. Was wir einander vorwerfen, braucht dich nicht zu kümmern. Deine demnächst königliche Person wird ganz und gar sicher sein – mein Wort darauf. Aber«, seine Stimme wurde eindringlicher, »ich lasse mich nicht, hörst du, nicht aus meines Vaters Haus weisen, und zwar von niemandem. Auch nicht von dir, Elias.«

Sein Bruder fuhr herum und starrte ihn an. Als ihre Blicke einander begegneten, kam es Simon vor, als blitzten Schwerter.

»Was wir einander vorwerfen?« fauchte Elias, und es klang etwas Zerbrochenes und Qualvolles aus seiner Stimme. »Was kannst du mir vorwerfen? Deine Hand?« Er ging ein paar Schritte von Josua fort und blieb mit dem Rücken zu seinem Bruder stehen. Seine Worte kamen stockend vor Bitterkeit. »Den Verlust einer Hand. Ja. Aber deinetwegen stehe ich hier als Witwer, und meine Tochter ist halb verwaist. Sprich mir also nicht von Vorwürfen!«

Josua schien eine Weile den Atem anzuhalten, bevor er erwiderte. »Dein Schmerz … ich kenne deinen Schmerz, Bruder«, meinte er endlich. »Weißt du denn nicht, daß ich nicht nur meine rechte Hand, sondern mein Leben gegeben hätte?«

Elias wirbelte herum, griff sich mit der Hand an den Hals und zerrte etwas Glitzerndes aus seinem Wams. Simon starrte mit aufgerissenem Mund durch das Geländer. Es war kein Messer, sondern etwas Weiches und Nachgiebiges, wie ein Streifen aus schimmerndem Stoff. Einen höhnischen Moment lang hielt Elias es seinem Bruder vor das erschreckte Gesicht, schleuderte es dann zu Boden, machte auf dem Absatz kehrt und stapfte durch den Mittelgang davon. Lange blieb Josua regungslos stehen, bis er sich schließlich bückte wie ein Träumender und den glänzenden Gegenstand aufhob – den silbernen Schal einer Frau. Er schaute ihn an, schützte den Glanz in der hohlen Hand, und eine Grimasse des Schmerzes oder der Wut verzerrte seine Züge. Mehrmals atmete Simon ein und aus, bevor Josua endlich den Schal in seine Hemdbrust steckte und seinem Bruder aus der Kapelle folgte.

Ein längerer Zeitraum verstrich, bevor Simon sich sicher genug fühlte, seinen Lauscherposten zu verlassen und sich zur Haupttür der Kapelle zu schleichen. Ihm war, als hätte er ein seltsames Puppenspiel gesehen, ein Usires-Spiel, für ihn allein aufgeführt. Jäh schien die Welt weniger beständig, weniger zuverlässig zu sein, da die Prinzen von Erkynland, die Erben von ganz Osten Ard, einander anbrüllten und sich streiten konnten wie betrunkene Wachsoldaten.

Als er in die Halle spähte, erschreckte Simon eine plötzliche Bewegung. Eine Gestalt im braunen Wams huschte über den Korridor, eine kleine Gestalt, ein junge, vielleicht so alt wie Simon oder jünger. Der Fremde warf einen Blick nach hinten – ein kurzer Eindruck von verschreckten Augen – und war dann um die Ecke verschwunden. Simon hatte ihn nicht erkannt. Konnte der andere ebenfalls den Prinzen nachspioniert haben? Simon schüttelte den Kopf. Er fühlte sich verwirrt und dumm wie ein Ochse mit Sonnenstich. Er nahm seinen Hut von dem Nest und brachte den Vögeln das Tageslicht und zwitscherndes Leben zurück. Wieder schüttelte er den Kopf. Es war ein beunruhigender Morgen gewesen.

IV

Grillenkäfig

Morgenes lief in seiner Werkstatt herum, völlig in die Suche nach einem Buch vertieft. Er winkte Simon die Erlaubnis zu, sich nach einem Käfig für die Jungvögel umzusehen, und setzte dann seine Jagd fort, wobei er Stöße von Manuskripten und Foliobänden umwarf wie ein blinder Riese in einer Stadt voll zerbrechlicher Türme.

Eine Behausung für die Nestlinge zu finden war schwieriger, als Simon erwartet hatte; es gab eine Menge Käfige, aber keiner schien ganz der richtige zu sein. Manche hatten so weit auseinanderstehende Gitterstäbe, daß sie für Schweine oder Bären gemacht zu sein schienen; andere waren schon mit seltsamen Dingen vollgestopft, die überhaupt nicht an Tiere erinnerten. Endlich fand er unter einer Rolle glänzenden Stoffes einen Käfig, der ihm geeignet schien. Er war kniehoch und glockenförmig, aus enggeflochtenen Flußbinsen gefertigt und – bis auf eine Sandschicht am Boden – leer. An der Seite gab es eine kleine, mit einem Stückchen Seil verschlossene Tür. Simon zupfte den Knoten auf und öffnete das Türchen.

»Halt! Hör sofort auf!«

»Was?« Simon sprang zurück. Der Doktor hüpfte an ihm vorbei und stieß mit dem Fuß die Käfigtür zu.

»Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe«, keuchte Morgenes, »aber ich hätte ein bißchen nachdenken sollen, bevor ich dich hier herumgraben und alles durchwühlen ließ. Der da ist für deine Zwecke nicht brauchbar, fürchte ich.«

»Aber warum nicht?« Simon beugte sich vor und kniff die Augen zusammen, konnte jedoch nichts Besonderes entdecken.

»Nun, mein Schmutzfink, bleib ein wenig hier stehen und rühr nichts an, dann will ich es dir zeigen. Töricht von mir, nicht daran gedacht zu haben.« Morgenes schaute sich einen Augenblick suchend um, bis er einen lange nicht mehr beachteten Korb mit Dörrobst fand. Er pustete den Staub von einer Feige und trat an den Käfig.

»Nun paß genau auf.« Er öffnete die Tür und warf die Frucht hinein. Sie landete im Sand des Käfigbodens.

»Ja?« fragte Simon verwirrt.

»Warte«, flüsterte der Doktor. Kaum war das Wort über seine Lippen, als auch schon etwas vorzugehen begann. Zuerst schien es, als schimmere im Käfig die Luft; dann sah man deutlich, daß der Sand selber sich bewegte und rund um die Feige in zartes Strudeln geriet. Plötzlich – so plötzlich, daß Simon mit überraschtem Ächzen zurücksprang – öffnete sich im Sand ein großer, zahniger Mund und verschluckte die Feige so schnell, wie ein Karpfen den Spiegel eines Teiches durchbricht, um eine Mücke zu schnappen. Ein kurzes Kräuseln im Sand, dann war es im Käfig wieder still, und alles schien so unschuldig wie zuvor.

»Was ist unter dem Sand?« keuchte Simon. Morgenes lachte.

»Das ist es!« Er schien hochzufrieden. »Das ist das Tierchen selber. Es gibt gar keinen Sand, er ist nur eine Art Maskerade. Alles dort auf dem Käfigboden ist ein einziges, schlaues Tier. Entzückend, nicht wahr?«