»Aber was sind Sithi? Ihr habt gesagt, sie seien kein ›Kleines Volk‹.«
Morgenes lächelte. »Ich weiß dein Interesse zu schätzen, Junge – vor allem, wo ich heute noch kein Wort vom Töten und Verstümmeln erzählt habe! Aber ich würde es noch mehr würdigen, wenn du nicht so schüchtern mit dem Besen umgingst. Tanz mit ihm, Junge, tanz mit ihm! Hier, feg das weg, sei so gut.«
Morgenes trottete zur Wand hinüber und deutete auf einen Rußfleck von mehreren Ellen Umfang, der große Ähnlichkeit mit einem riesigen Fußabdruck hatte. Simon beschloß, keine Fragen zu stellen, und machte sich statt dessen daran, den Fleck von dem weißverputzten Stein zu kehren.
»Aaaah! Vielen herzlichen Dank. Das wollte ich schon seit Monaten hier weghaben – seit Allerheiligen letztes Jahr, genau gesagt. Also, wo im Namen der Niederen Vistrils war ich? Oh, deine Frage. Die Sithi? Ja, die waren als erste hier und werden vielleicht noch hier sein, wenn es uns nicht mehr gibt. Wenn es uns alle nicht mehr gibt.
Sie sind so verschieden von uns wie der Mensch vom Tier – aber trotzdem ähnlich…« Der Doktor unterbrach sich und überlegte.
»Um gerecht zu sein, Mensch und Tier in Osten Ard haben nur eine verhältnismäßig kurze Lebensspanne, und das trifft auf die Sithi nicht zu. Wenn das Schöne Volk auch nicht wirklich unsterblich ist, so doch weit langlebiger als alle Menschen, selbst unser König mit seinen über neunzig Jahren. Es kann sein, daß sie überhaupt nicht sterben, wenn es nicht aus freiem Willen oder durch Gewalt geschieht – vielleicht ist Gewalt sogar etwas Freiwilliges, wenn man ein Sitha ist…«
Morgenes verstummte. Simon starrte ihn mit offenem Mund an.
»Mach die Klappe zu, Junge, du siehst aus wie Inch. Es ist mein gutes Recht, mich ein bißchen in meinen Gedanken zu verlieren. Oder möchtest du lieber wieder zur obersten der Kammerfrauen gehen und ihr zuhören?«
Simons Mund schloß sich, und er machte sich erneut daran, den Ruß von der Wand zu kehren. Er hatte jetzt den ursprünglichen Fußabdruck so verändert, daß die Gestalt eher einem Schaf ähnelte. Von Zeit zu Zeit hielt er inne, um seine Arbeit zu betrachten. Irgendwo im Nacken juckte ihn die Langeweile: Er hatte den Doktor wirklich gern und war lieber hier als an jedem anderen Ort – aber der alte Mann hörte ja gar nicht wieder auf! Vielleicht, wenn er oben noch ein bißchen wegfegte – würde es dann aussehen wie ein Hund? Sein Magen knurrte gedämpft.
Morgenes fuhr fort – mit, wie Simon fand, vielleicht nicht unbedingt notwendigen Einzelheiten über das Zeitalter des Friedens zwischen den Untertanen des alterslosen Erlkönigs und denen der Emporkömmlinge, der menschlichen Imperatoren.
»… und so gelangten Sithi und Menschen zu einer Art Gleichgewicht«, erklärte der alte Mann. »Sie trieben sogar ein wenig Handel miteinander…«
Simons Magen grollte jetzt laut. Der Doktor lächelte ein winziges Lächeln und legte die letzte Zwiebel zurück, die er gerade vom Tisch genommen hatte.
»Die Menschen brachten Gewürze und Farben von den Südlichen Inseln oder Edelsteine aus den Grianspog-Bergen in Hernystir; dafür erhielten sie köstliche Dinge aus den Schatztruhen des Erlkönigs, kunstreich und geheimnisvoll gefertigte Gegenstände.«
Simons Geduld war zu Ende. »Aber was war mit den Schiffern, den Rimmersmännern? Was geschah mit den eisernen Schwertern?« Er sah sich nach etwas Eßbarem um. Die letzte Zwiebel vielleicht? Vorsichtig schlich er näher. Morgenes stand mit dem Gesicht zum Fenster. Während er in den grauen Vormittag hinausblickte, steckte Simon das papierähnliche braune Ding ein und eilte zu dem Fleck an der Wand zurück. Die inzwischen wesentlich kleiner gewordene Stelle erinnerte jetzt an eine Schlange.
Ohne sich vom Fenster abzuwenden, fuhr Morgenes fort: »Ich glaube, in meiner heutigen Geschichte gibt es in der Tat eine ganze Menge friedlicher Zeiten und Leute.« Er wiegte den Kopf und ging an seinen Platz zurück. »Der Frieden wird aber bald aufhören – nur keine Angst.« Wieder schüttelte er den Kopf, und eine dünne Haarlocke legte sich über seine runzlige Stirn. Simon knabberte verstohlen an der Zwiebel.
»Das goldene Zeitalter von Nabban dauerte etwas über vier Jahrhunderte, bis die Rimmersmänner zum ersten Mal nach Osten Ard kamen. Damals hatte das Nabbanai-Imperium schon begonnen, sich selbst zu vernichten. Tiyagaris' Linie war am Ende ausgestorben, und jeder neue Imperator, der an die Macht kam, war ein anderer Wurf aus dem Würfelbecher. Einige waren gute Männer, die das Reich zusammenzuhalten versuchten; andere, wie etwa Crexis der Ziegenbock, waren schlimmer als alle Nordräuber. Und manche, wie Enfortis, waren einfach nur schwach.
Es war in Enfortis' Regierungszeit, als die Eisenschwinger kamen. Der Imperator beschloß, den Norden ganz aufzugeben. Der Rückzug erfolgte so schnell, daß viele der nördlichen Grenzposten sich im Stich gelassen fanden und ihnen nichts übrigblieb, als sich den vorwärtsdrängenden Rimmersmännern anzuschließen oder zu sterben. Hmmm … langweile ich dich vielleicht, Junge?«
Simon, der sich an die Wand gelehnt hatte, schoß in die Höhe und begegnete Morgenes' wissendem Lächeln.
»Nein, Doktor, nein! Ich habe nur die Augen zugemacht, um Euch besser lauschen zu können. Sprecht weiter!«
Aber tatsächlich machten ihn alle diese Namen, Namen, Namen doch ein bißchen schläfrig … und er wünschte sich, der Doktor würde sich beeilen und endlich zu den Stellen mit den Schlachten kommen. Andererseits gefiel es ihm, der einzige in der ganzen Burg zu sein, mit dem Morgenes sich unterhielt. Die Kammermädchen wußten von solchen Dingen gar nichts … Männersachen. Was wußten Mägde oder Dienstmädchen von Heeren, Fahnen und Schwertern?
»Simon?«
»Ja? Sprecht weiter!« Er wirbelte herum, um den letzten Rest des Flecks zu beseitigen, während der Doktor weitererzählte. Die Wand war sauber. Hatte er fertiggefegt, ohne es zu merken?
»Nun, ich werde versuchen, die Geschichte ein wenig kürzer zu fassen, Junge. Wie gesagt, zog Nabban seine Heere aus dem Norden ab und wurde zum ersten Mal ein ausschließlich südliches Kaiserreich. Natürlich war das nur der Anfang vom Ende; im Lauf der Zeit faltete sich das Imperium zusammen wie eine Decke, kleiner und kleiner, bis es heute nicht mehr als ein Herzogtum ist – eine Halbinsel mit ein paar dazugehörigen Inseln. Was, im Namen von Paldirs Pfeil, machst du da eigentlich?«
Simon verrenkte sich wie ein Jagdhund, der sich an einer schwer zugänglichen Stelle kratzen möchte. Ja, das war der letzte Rest des Wandschmutzes: ein schlangenförmiger Dreckstreifen hinten auf seinem Hemd. Er hatte sich dagegen gelehnt. Verlegen drehte er sich zu Morgenes um, aber der Doktor lachte nur und sprach weiter.
»Ohne die Garnisonen des Imperiums, Simon, war der Norden ein Chaos. Die Schiffer hatten den nördlichsten Teil der Frostmark erobert und nannten ihre neue Heimat Rimmersgard. Damit aber keineswegs zufrieden, stießen die Rimmersmänner weiter nach Süden vor und fegten in blutigem Ansturm alles vor sich her. Stapel diese Foliobände an der Wand auf, bitte.
Sie beraubten andere Menschen, zerstörten ihre Heimat und nahmen viele gefangen; die Sithi traf es am härtesten. Sie hielten sie für böse Wesen und jagten das Schöne Volk überall mit Feuer und kaltem Eisen und töteten sie … Vorsicht mit dem da, sei ein guter Junge.«