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»Da drüben, Doktor?«

»Ja – aber bei Anaxos' Gebeinen, laß sie nicht fallen! Leg sie hin.

Wenn du wüßtest, welche gräßlichen mitternächtlichen Stunden ich auf einem Friedhof in Utanyeat zugebracht habe, um sie in die Hände zu bekommen! So, schon viel besser.

Nun waren jedoch die Bewohner von Hernystir – ein stolzes, wildes Volk, das kein Nabbanai-Imperator je wirklich unterworfen hatte – ganz und gar nicht bereit, vor Rimmersgard den Nacken zu beugen. Sie waren entsetzt über das, was die Nordleute den Sithi antaten. Von allen Menschen waren die Hernystiri mit dem Schönen Volk am besten vertraut – noch heute findet man die Spuren einer uralten Handelsstraße zwischen dieser Burg und dem Taig von Hernysadharc. Der Herr von Hernystir und der Erlkönig schlossen einen verzweifelten Bund, und für eine Weile geboten sie der Flut aus dem Norden Einhalt.

Aber selbst ihr vereinter Widerstand konnte nicht ewig dauern. Fingil, der König der Rimmersmänner, überrannte die Frostmark und überschritt die Grenzen zum Gebiet des Erlkönigs…« Morgenes lächelte traurig. »Wir kommen jetzt zum Schluß, junger Simon, hab keine Angst, wir kommen ans Ende von allem …

Im Jahre 663 erreichten die beiden gewaltigen Heere die Ebenen von Agh Samrath, dem Sommerfeld, im Norden des Gleniwentflusses. Fünf Tage währte das furchtbare, erbarmungslose Gemetzel, und die vereinten Hernystiri und Sithi hielten der Macht der Rimmersmänner stand. Am sechsten Tage jedoch wurden sie an ihrer ungeschützten Flanke verräterisch von einem Heer von Thrithingsmännern überfallen, die schon seit langem die Reichtümer des Erkynlandes und der Sithi für sich begehrten. Im Schutz der Dunkelheit führten sie einen entsetzlichen Angriff. Die Verteidigung wurde durchbrochen, die Streitmacht der Hernystiri zerschmettert, der Weiße Hirsch des Hauses Hern in den blutigen Staub getrampelt. Man sagt, zehntausend Männer aus Hernystir seien an diesem Tag auf dem Schlachtfeld gefallen. Niemand weiß, wie viele Sithi starben, aber auch ihre Verluste waren schrecklich. Die überlebenden Hernystiri flohen in die Wälder ihrer Heimat zurück. Heute ist Agh Samrath in Hernystir ein Name, der nur Haß und Verlust bedeutet.«

»Zehntausend!« Simon stieß einen Pfiff aus. Seine Augen glänzten, so furchtbar und großartig war das alles.

Morgenes quittierte den Gesichtsausdruck des Jungen mit einer kleinen Grimasse, sagte jedoch nichts dazu.

»Das war der Tag, an dem die Vorherrschaft der Sithi in Osten Ard endete, auch wenn es drei lange Belagerungsjahre dauerte, bis Asu'a den siegreichen Nordmännern in die Hände fiel. Hätte nicht der Sohn des Erlkönigs unheimliche, schreckliche Zauberkünste geübt, würde wahrscheinlich kein einziger Sitha den Fall der Burg überlebt haben. So aber blieben viele am Leben, flohen in die Wälder oder nach Süden oder … an andere Orte.«

Jetzt war Simons Aufmerksamkeit gebannt, als hätte man sie festgenagelt. »Und der Sohn des Erlkönigs? Wie hieß er? Was für einen Zauber hat er benutzt?« Ein plötzlicher Einfalclass="underline" »Und was ist mit Johan dem Priester? Ich dachte, Ihr wolltet mir auch vom König erzählen!«

»Ein andermal, Simon.« Morgenes fächelte sich mit einem Stoß hauchdünnen Pergaments die Stirn, obwohl es recht kühl im Zimmer war. »Es gibt noch viel zu erzählen über die dunklen Zeiten nach Asu'as Fall, viele Geschichten. Die Rimmersmänner haben hier geherrscht, bis der Drache kam. In späteren Jahren, als der Drache schlief, hielten wieder andere die Burg. Viele Jahre vergingen, und mehrere Könige herrschten auf dem Hochhorst, viele dunkle Jahre und viele Tode, bis Johan kam…« Er verstummte und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, als wollte er die Müdigkeit abstreifen.

»Aber was wurde aus dem Sohn des Sithikönigs?« fragte Simon erneut. »Und was war das für ein ›unheimlicher Zauber‹?«

»Über den Sohn des Erlkönigs … spricht man besser nicht.«

»Aber warum?«

»Genug gefragt, Junge!« knurrte Morgenes und wedelte mit den Händen. »Ich bin müde vom Reden!«

Simon war gekränkt. Er hatte ja nur die ganze Geschichte hören wollen; warum regten sich Erwachsene so leicht auf? Aber man durfte schließlich nicht das Huhn schlachten, das die goldenen Eier legte.

»Tut mir leid, Doktor.« Er strengte sich an, ein reuiges Gesicht zu machen, aber der alte Gelehrte mit seinem rosigen, geröteten Affengesicht und den widerspenstig in die Höhe stehenden Haarsträhnen sah einfach zu komisch aus. Simon fühlte, wie ein Lächeln seine Lippen kräuselte. Morgenes sah es, bewahrte jedoch die strenge Miene.

»Wirklich, es tut mir leid.« Unverändert. Was sollte er noch versuchen? »Ich danke Euch, daß Ihr mir diese Geschichten erzählt habt.«

»Keine Geschichten!« brüllte Morgenes. »Geschichte! Und jetzt fort mit dir! Komm morgen früh wieder und stell dich aufs Arbeiten ein, denn du hast ja noch nicht einmal mit der Arbeit von heute richtig angefangen!«

Simon stand auf. Er gab sich Mühe, das Lächeln zu unterdrücken, aber als er sich umdrehte und gehen wollte, riß es sich los und legte sich über sein Gesicht wie eine Bandschlange. Als sich hinter ihm die Tür schloß, hörte er Morgenes fluchen, welche unirdischen Dämonen ihm schon wieder den Porterkrug versteckt hätten.

Die Nachmittagssonne stach durch Risse in den schweren Wolken, als Simon zum Inneren Zwinger zurückging. Äußerlich betrachtet, schien er zu trödeln und Maulaffen feilzuhalten, ein langer, schlaksiger, rothaariger Junge in staubverkrusteter Kleidung. In seinem Inneren aber wimmelte es von sonderbaren Gedanken, ein Bienenstock voller summender, murmelnder Sehnsüchte.

Schau diese Burg an, dachte er – alt und tot, Stein auf leblosen Stein gepreßt, ein Felshaufen, von kleingeistigen Kreaturen bewohnt. Aber das war einmal anders gewesen. Große Dinge hatten sich hier ereignet. Hörner waren erklungen, Schwerter hatten geglitzert, große Heere waren aufeinandergestoßen und wieder zurückgeprallt wie die Wogen des Kynslagh, die an die Seetor-Mauer schlugen. Jahrhunderte waren seitdem vergangen, aber Simon schien es, als geschehe es gerade jetzt und nur für ihn, während das langsame, vernunftlose Volk, das die Burg mit ihm teilte, vorüberkroch, im Kopf nur die nächste Mahlzeit und das Nickerchen unmittelbar danach.

Dummköpfe.

Als er durch das hintere Tor trat, fiel ihm ein Lichtschimmer ins Auge und lenkte seinen Blick auf den Umgang oben auf dem Hjeldin-Turm. Ein Mädchen stand dort, bunt und klein wie ein Schmuckstück; ihr grünes Kleid und goldenes Haar fingen den Sonnenstrahl auf, als wäre er wie ein Pfeil vom Himmel allein auf sie gezielt gewesen. Simon konnte ihr Gesicht nicht erkennen, aber irgendwie wußte er genau, daß sie schön war – schön und großmütig wie das Bildnis der Unbefleckten Elysia, das in der Kapelle stand.

Sekundenlang entflammte ihn der grüngoldene Blitz wie ein Funke, der in trockenes Holz fällt. Er spürte, wie aller Ärger und Groll, die er mit sich herumgeschleppt hatte, verschwanden, in einer hastigen Sekunde zu Asche verbrannt. Er fühlte sich leicht und voller Auftrieb wie Schwanenflaum, die Beute jedes kleinen Windes, der ihn fort blies, ihn vielleicht emportrug zu jenem goldenen Glanz.

Dann löste er den Blick von dem wunderbaren, gesichtslosen Mädchen und sah hinunter auf die eigenen, zerrissenen Kleider. Rachel wartete, und sein Essen war kalt geworden. Eine vertraute, unbestimmte Last kletterte zurück auf ihren angestammten Sitz, beugte seinen Nacken und ließ die Schultern herabfallen, als er zu den Dienstbotenquartieren hinüberstapfte.

V

Das Turmfenster

Der Novander versprühte in Wind und zartem Schnee; geduldig wartete der Decander, das Jahresende am Mantelsaum.

Nachdem König Johan Presbyter seine beiden Söhne zum Hochhorst zurückberufen hatte, erkrankte er aufs neue und zog sich wieder in sein abgedunkeltes Zimmer zurück, umschwärmt von Wundärzten, gelehrten Doktoren und scheltenden, besorgten Leibdienern. Von Sankt Sutrin, der großen Kirche von Erchester, rauschte Bischof Domitis herbei und etablierte sich am Krankenbett, wo er den König zu jeder Tages- und Nachtzeit aus dem Schlaf rüttelte, um Webmuster und Gewicht der königlichen Seele zu inspizieren. Der alte, immer schwächer werdende Mann ertrug Schmerz und Priester mit stoischer Tapferkeit.