In der winzigen Kammer neben dem Gemach des Königs, die seit vierzig Jahren von Strupp bewohnt wurde, lag eingeölt in seiner in feines Leinen gewickelten Scheide das Schwert Hellnagel ganz unten in der Eichentruhe des Narren.
Weit und breit über das breite Antlitz von Osten Ard flog das Wort: Johan der Priester liegt im Sterben. Sofort schickten Hernystir im Westen und das nördliche Rimmersgard Gesandtschaften ans Bett des dahingestreckten Erkynlandes. Der alte Herzog Isgrimnur, Johans Tischgenosse zur Linken an der Großen Tafel, brachte fünfzig Rimmersmänner aus Elvritshalla und Naarved, die ganze Gesellschaft für die Durchquerung der winterlichen Frostmark von Kopf bis Fuß in Pelze und Leder gehüllt. Nur zwanzig Hernystiri begleiteten König Lluths Sohn Gwythinn, aber das helle Gold und Silber, das sie trugen, blitzte wacker und überstrahlte das ärmliche Tuch ihrer Kleidung.
Die Burg begann sich mit der Musik lange Zeit nicht mehr vernommener Sprachen zu beleben, Rimmerspakk und Perdruinesisch und Harcha-Zunge. Die rollende Inselmundart von Naraxi schwebte durch den Torhof, und die Ställe hallten wider von dem auf- und absteigenden Singsang der Thrithing-Männer – die Grasländer fühlten sich immer am wohlsten bei den Pferden. Über diesen und allen anderen Sprachen hing die dröhnende Redeweise Nabbans, die geschäftige Zunge der Mutter Kirche und ihrer ädonitischen Priester, die sich wie immer sofort um das Kommen und Gehen der Menschen und um ihre Seelen kümmerten.
Auf dem hohen Hochhorst und unten in Erchester trafen sich diese kleinen Heere von Fremden und flossen wieder auseinander, meist ohne Zwischenfälle. Obwohl viele der Völker einst Erbfeinde gewesen waren, hatten fast achtzig Jahre unter dem Schutz des Hochkönigs viele Wunden heilen lassen. Es wurden mehr Viertelpinten Bier als harte Worte getauscht.
Eine ärgerliche Ausnahme gab es von dieser Regel der Eintracht, aber eine, die man nur schwer übersehen oder mißverstehen konnte. Wo immer sie einander begegneten, unter den breiten Toren des Hochhorstes oder in den schmalen Gassen von Erchester, gerieten Prinz Elias' grünuniformierte Soldaten und Prinz Josuas Gefolgsmänner in ihren grauen Hemden aneinander, stritten sich und spiegelten öffentlich den privaten Zwist der Königssöhne wider. Johans Erkyngarde mußte mehrfach eingreifen, um unerfreuliche Auseinandersetzungen zu schlichten. Schließlich erhielt ein Anhänger Josuas einen Dolchstich von einem jungen Adligen aus Meremund, der ein enger Freund des Thronerben war. Zum Glück trug Josuas Mann keine ernstliche Verletzung davon – der Stich geschah im Rausch und war schlecht gezielt –, und die Parteigänger mußten sich den tadelnden Worten der älteren Höflinge fügen. Die Truppen der beiden Prinzen kehrten zu kalten Blicken und höhnischen Bemerkungen zurück; offenes Blutvergießen wurde vermieden.
Es waren seltsame Tage in Erkynland und ganz Osten Ard, Tage, von Sorge und Aufregung gleichermaßen belastet. Der König war noch nicht tot, aber es schien, als werde er es sehr bald sein. Die ganze Welt veränderte sich – wie konnte irgend etwas bleiben wie zuvor, wenn Johan der Priester nicht mehr auf dem Drachenbeinthron saß?
»Udunstag: Traum … Drorstag: besser … Fraytag: am best… Satrinstag: Markttag … Sonntag: im Nest!«
Simon nahm die knarrenden Stufen immer zwei auf einmal und sang, so laut er konnte, den alten Reim. Fast hätte er Sophrona, die Wäschebeschließerin, umgerannt, die ein Geschwader mit Decken beladener Mägde durch das Tor zum Kieferngarten führte. Mit einem kleinen Aufkreischen warf sie sich gegen den Torpfosten, als Simon vorübersauste, und drohte dann mit dürrer Faust seinem davoneilenden Rücken nach.
»Ich sag's Rachel!« rief sie. Ihre Schützlinge unterdrückten das Lachen.
Wer scherte sich um Sophrona? Heute war Satrinstag – Markttag –, und die Köchin Judith hatte Simon zwei Pfenninge gegeben, um ein paar Sachen für sie einzukaufen, und dazu ein Fithingstück – wunderbarer Satrinstag! –, das er für sich selbst verwenden durfte. Die Münzen klingelten lieblich und anregend in seinem ledernen Geldbeutel, während er sich wie auf einer Spirale durch die meilenweiten, langen, kreisförmigen Höfe der Burg hinaus ins Freie bewegte, durch das Tor des Inneren Zwingers in den Mittleren Zwinger, der im Augenblick fast leer war, weil seine sonstigen Bewohner, Soldaten und Handwerker, zum größten Teil entweder Dienst hatten oder den Markt besuchten.
Der Burganger im Äußeren Zwinger wimmelte von Vieh, das sich in der Kälte unglücklich aneinanderdrängte und von kaum fröhlicher dreinschauenden Hirten bewacht wurde. Simon trabte an den Reihen niedriger Häuser, Lagerräume und Ställe vorbei, von denen manche so alt und derart von winternacktem Efeu überwuchert waren, daß sie nur warzige Auswüchse der inneren Mauer des Hochhorstes zu sein schienen.
Durch die Wolken glitzerte die Sonne auf den Steinschnitzereien, die das mächtige Chalzedon-Antlitz des Nerulagh-Tores dicht bedeckten. Simon, der jetzt etwas langsamer vorantrottete und den Pfützen auswich, starrte mit offenem Mund auf die verschlungenen Darstellungen von König Johans Sieg über Ardrivis – jener Schlacht, die Nabban endlich unter die Hand des Königs gebracht hatte. Plötzlich drangen der Lärm schneller Hufe und das schrille Quietschen von Wagenrädern an sein Ohr. Als er entsetzt aufblickte, fand er sich den weißen, rollenden Augen eines durch das Nerulagh-Tor heranstürmenden Pferdes gegenüber, unter dessen Hufen der Schlamm aufspritzte. Simon warf sich zur Seite und spürte einen kalten Windstoß im Gesicht, als das Pferd vorbeidonnerte, wobei der Wagen, den es hinter sich herzog, wild schwankte. Er erhaschte einen kurzen Blick auf den Lenker, der in einen dunklen, scharlachgefütterten Kapuzenmantel gekleidet war. Die Augen des Mannes durchbohrten ihn, während der Wagen davonsauste; sie waren schwarz und glänzend wie die grausamen Knopfaugäpfel eines Hais. So flüchtig der Kontakt auch war, Simon kam es vor, als versenge ihn der Blick des Wagenlenkers. Er taumelte zurück, klammerte sich an die steinerne Toreinfassung und sah zu, wie der Wagen in der Fahrspur um den Äußeren Zwinger verschwand. Hinter ihm gackerten und flatterten Hühner, soweit sie nicht zerquetscht und blutig in der ausgefahrenen Radspur lagen. Lehmverschmutzte Federn schwebten zur Erde.
»He, Junge, du bist doch nicht verletzt?« Einer der Torwächter zog Simons zitternde Hand von den Schnitzereien herunter und stellte ihn wieder auf die Beine. »Dann schau, daß du weiterkommst.«
Schnee tanzte in der Luft und haftete schmelzend an seinen Wangen, als Simon sich auf den langen Weg bergab nach Erchester machte. Das Klingeln der Münzen in seiner Tasche folgte jetzt dem langsameren Rhythmus seiner wackligen Knie.
»Dieser Priester ist verrückt wie der Mond«, hörte Simon den Wächter zu seinem Kameraden am Tor sagen. »Wäre er nicht einer von Prinz Elias' Männern…«
Drei kleine Kinder, die mit ihrer mühsam kletternden Mutter den feuchten Bergweg hinaufstiegen, deuteten auf den langbeinigen Simon, als er an ihnen vorbeilief, und lachten über den Ausdruck seines blassen Gesichtes.
Die Mittelgasse war auf ganzer Länge mit zusammengenähten Tierhäuten überdacht, die oberhalb der breiten Durchfahrt von einem Gebäude zum andern reichten. An jeder Wegkreuzung hatte man große, steinerne Feuerstellen errichtet, deren Rauch größtenteils, wenn auch gewiß nicht ganz und gar, durch Löcher im Zeltdach nach oben abzog. Schnee, der durch diese ›Kaminöffnungen‹ fiel, zischte und dampfte in der heißen Luft. Leute aus Erchester und vom Hochhorst wärmten sich an den Flammen oder schlenderten schwatzend umher, wobei sie verstohlen die auf allen Seiten zur Schau gestellten Waren musterten. Unter sie mischten sich Bewohner entfernterer Lehen, und alles drängte auf die breite Mittelgasse, die sich über zwei volle Meilen erstreckte, vom Nerulagh-Tor bis zum Platz der Schlachten am anderen Ende der Stadt. Im Strom dieser Menschenansammlung schöpfte Simon neuen Mut. Was kümmerte ihn ein betrunkener Priester? Schließlich war Markttag!