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Als nächstes sahen sie einem Usires-Spiel zu, das vor einer Meute kreischender Kinder und hingerissener Erwachsener aufgeführt wurde. Die Puppen hüpften auf und ab und machten ihre Verbeugungen; Usires in seinem weißen Gewand wurde vom Imperator Crexis mit Ziegenhörnern und Bart verfolgt, der eine lange Hellebarde mit Widerhaken an der Spitze schwang. Endlich wurde Usires gefangengenommen und am Hinrichtungsbaum aufgehängt. Crexis sprang mit schrillen Rufen um den Baum herum und stach und quälte den an das Holz genagelten Erlöser. Die Kinder, in wilder Aufregung, schrien dem Bocksprünge machenden Imperator Beschimpfungen zu.

Cadrach stieß Simon in die Seite. »Siehst du?« fragte er und zeigte mit einem dicken Finger auf die Vorderseite der Puppenbühne. Der Vorhang, der bis auf den Boden hinunterhing, wogte wie in einem starken Wind. Wieder stieß Cadrach Simon an.

»Würdest du nicht auch sagen, daß das eine großartige Darstellung Unseres Herrn ist?« fragte er, den Blick unverwandt auf das flatternde Tuch gerichtet. Oben tanzte Crexis herum, und Usires litt. »Während der Mensch seine Vorstellung gibt, bleibt der Spielleiter unsichtbar; wir kennen ihn nicht von Angesicht, sondern erkennen ihn nur an der Art, wie seine Puppen sich bewegen. Und manchmal bewegt sich ganz leicht der Vorhang, der ihn vor seinem getreuen Publikum verbirgt. Ach, und wie dankbar sind wir schon für die bloße Bewegung hinter dem Vorhang – dankbar!«

Simon glotzte. Endlich löste Cadrach den Blick vom Puppentheater und sah Simon in die Augen. Ein seltsames, trauriges Lächeln kräuselte den Mundwinkel des Mönchs und paßte ausnahmsweise zum Ausdruck seiner Augen.

»Ach, Junge«, erklärte er, »was solltest du auch schon von Fragen der Religion verstehen?«

Noch eine Weile schlenderten sie auf und ab, bis Bruder Cadrach sich endlich mit vielem Dank für die Gastfreundschaft von dem jungen Mann verabschiedete. Als der Mönch gegangen war, streunte Simon noch lange ziellos umher, und frühe Dunkelheit bedeckte bereits die Stücke Himmel, die durch das Zeltdach sichtbar waren, als ihm endlich sein Auftrag wieder einfiel und er zur Bude des Gewürzkrämers eilte. Dort entdeckte er, daß sein Geldbeutel verschwunden war.

Simons Herz schlug mit dreifacher Geschwindigkeit, als er voller Panik zurückdachte. Er wußte, daß er den Beutel noch am Gürtel gespürt hatte, als Cadrach und er stehengeblieben und Maronen gekauft hatten; aber er konnte sich nicht erinnern, ob er ihn im weiteren Verlauf des Nachmittags noch gehabt hatte. Wann immer er aber auch weggekommen war, jetzt war er jedenfalls nicht mehr da – und mit ihm nicht nur sein eigenes Fithingstück, sondern auch die beiden Pfenninge, die Judith ihm anvertraut hatte!

Vergeblich suchte er den Markt ab, bis die Himmelslöcher so schwarz geworden waren wie ein alter Kessel. Der Schnee, den er vorher kaum wahrgenommen hatte, schien ihm sehr kalt und sehr naß, als er mit leeren Händen auf die Burg zurückkehrte.

Schlimmer als eine Tracht Prügel war, wie Simon herausfand, als er ohne Gewürze und Geld sein Heim erreichte, der enttäuschte Blick der guten, dicken, mehlbestäubten Judith. Auch Rachel bediente sich dieses unfairsten aller Schachzüge, indem sie ihm keine schmerzhaftere Strafe auferlegte als ihren angewiderten Gesichtsausdruck, voller Abscheu über sein kindisches Benehmen, und ihm versprach, daß er sich »die Finger bis auf die Knochen abarbeiten« würde, um das Geld wieder zu verdienen. Selbst Morgenes, zu dem Simon in halber Hoffnung auf Mitgefühl lief, schien über die Unachtsamkeit des Jungen ein wenig überrascht zu sein. Insgesamt hatte Simon, auch wenn ihm die Prügel erspart geblieben waren, sich noch nie so elend gefühlt und sich selbst derartig bedauert.

Sonntag kam und ging, ein dunkler, matschiger Tag, an dem sich der größte Teil der Dienerschaft auf dem Hochhorst in der Kapelle aufzuhalten und ein Gebet für König Johan zu sprechen schien. Simon hatte genau dieses juckende, gereizte Gefühl, bei dem man am liebsten gegen irgend etwas treten möchte, das er normalerweise durch einen Besuch bei Morgenes oder einen Streifzug ins Freie besänftigen konnte. Aber der Doktor war beschäftigt – er hatte sich mit Inch eingeschlossen und arbeitete an etwas, das nach seinen eigenen Worten umfangreich, gefährlich und leicht in Brand zu setzen war; Simon wurde dabei nicht gebraucht. Und das Wetter draußen war so kalt und unfreundlich, daß er sich bei aller Unruhe nicht aufraffen konnte, irgendwo umherzustreifen. So verbrachte er den endlosen Nachmittag mit Jeremias, dem dicken Lehrling des Wachsziehers. Die beiden warfen Steine von einem der Türmchen der Inneren Zwingermauer und stritten sich eher gelangweilt, ob die Fische im Burggraben im Winter erfroren oder, falls nicht, wohin sie gingen, bis es wieder Frühling wurde.

Die Kälte draußen, und mit ihr die andere Art Kälte in den Dienstbotenquartieren, hielt auch am Mondtag an, als Simon aufstand. Er fühlte sich kümmerlich und unbehaglich. Auch Morgenes schien bedrückter und ungeselliger Stimmung zu sein, so daß Simon, sobald er seine Arbeit in der Wohnung des Doktors erledigt hatte, etwas Brot und Käse aus dem Speiseschrank der Anrichte stibitzte und sich fortschlich, um allein zu sein.

Eine Weile drückte er sich am Archivsaal im Mittleren Zwinger herum und lauschte den trockenen, insektenhaften Geräuschen der Schreibpriester. Nach einer Stunde jedoch kam es ihm langsam so vor, als sei es seine eigene Haut, auf der die Federn der Schreiber herumkratzten und kratzten und kratzten…

Er beschloß, sein Essen mitzunehmen und die Treppe zum Grünengel-Turm hinaufzuklettern, etwas, das er nicht mehr getan hatte, seitdem das Wetter umgeschlagen war. Weil der Küster Barnabas ihn aber mit demselben Vergnügen von dort verjagen würde, mit dem er sich mühte, in den Himmel zu kommen, entschied sich Simon, die Strecke über die Kapelle zum Turm gänzlich zu vermeiden und lieber seinen privaten Geheimpfad zu den oberen Stockwerken einzuschlagen. Er knüpfte seine Mahlzeit fest ins Taschentuch und machte sich auf den Weg.

Während er durch die scheinbar endlosen Hallen der Kanzlei lief und dabei immer wieder von überdachtem Gang in offenen Hof und von neuem unter Dach kam – dieser Teil der Burg wimmelte von kleinen, rings ummauerten Höfen –, vermied er es abergläubisch, zum Turm hinaufzusehen. Außergewöhnlich schlank und bleich beherrschte dieser die Südwestecke des Hochhorstes wie eine Birke einen Steingarten, so unfaßbar hoch und schmal, daß es von unten fast aussah, als stehe er auf irgendeinem fernen Berghang, viele Meilen jenseits der Burgmauer. Simon an seinem Fuß konnte den Turm im Wind beben hören wie eine Lautensaite, straff über einen himmlischen Wirbel gespannt.

Die ersten vier Stockwerke des Grünengel-Turms sahen nicht anders aus als die der sonstigen Gebäude auf der Burg. Frühere Gebieter des Hochhorstes hatten seinen schmalen Sockel in Vormauern und Zinnen aus Granit gehüllt, ob aus dem berechtigten Wunsch nach mehr Sicherheit oder deshalb, weil die Fremdartigkeit des Turms sie beunruhigte, konnte niemand mehr wissen. Über der Höhe der den Turm umschließenden Zwingermauer endete diese Panzerung; nackt strebte der Turm nach oben, ein schönes Albinowesen, das aus seiner unscheinbaren Verpuppung schlüpfte. Balkone und Fenster mit fremdartigen, abstrakten Mustern waren unmittelbar in die glänzende Oberfläche des Steins gemeißelt, ähnlich den geschnitzten Walzähnen, die Simon schon oft auf dem Markt gesehen hatte. Von der Turmspitze schimmerte ein fernes Feuer aus Kupfergold und Grün: ein weiblicher Engel, den einen Arm wie abschiednehmend ausgestreckt, mit dem anderen die Augen beschattend, mit denen er nach Osten in die Ferne blickte.