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»Simon! Wo im Namen der heiligen Schöpfung steckst du da!« Der Zweig entsank seinen kraftlosen Fingern, als hätte ihm ein Pfeil das Herz durchbohrt. Langsam drehte er sich zu der Gestalt um, die hinter ihm aufragte.

»Nirgendwo…«, wollte Simon sagen, aber noch während das Wort dem Mund entfloh, packte ihn ein knochiges Fingerpaar am Ohr und zerrte ihn ruckartig auf die Füße. Vor Schmerz jaulte er auf.

»Komm mir nicht mit ›nirgendwo‹, junger Strolch«, bellte ihm Rachel der Drache, die Oberste der Kammerfrauen, mitten ins Gesicht – eine Höhengleichheit, die nur dadurch erzielt wurde, daß Rachel auf den Zehenspitzen stand und der Junge von Natur aus zu schlechter Haltung neigte; denn Rachel fehlte fast ein Fuß an Simons Länge.

»Ja, Herrin, es tut mir leid, tut mir leid«, murmelte Simon und bemerkte betrübt, daß der Käfer auf einen Spalt in der Mauer der Kapelle und damit auf seine Freiheit zusteuerte.

»Mit ›tut mir leid‹ kommst du auf die Dauer auch nicht durch«, knurrte Rachel. »Jedermann im ganzen Haus rackert sich ab, damit alles bereit ist, nur du nicht! Und als ob das nicht schlimm genug wäre, muß ich auch noch meine kostbare Zeit verschwenden, um dich zu suchen! Wie kannst du so ein unartiger Junge sein, Simon, wenn du dich doch längst wie ein Mann benehmen solltest? Wie kannst du nur?«

Der Junge, vierzehn schlaksige Jahre alt und in peinlichster Verlegenheit, antwortete nicht. Rachel starrte ihn an. Traurig genug, dachte sie, dieses rote Haar und die Pickel, aber wenn er dann noch so nach oben schielt und eine Flunsch zieht, sieht er ja geradezu schwachsinnig aus!

Simon, seinerseits seine Ergreiferin anglotzend, sah, daß Rachel schwer atmete und kleine Dampfwölkchen in die Novanderluft pustete. Außerdem zitterte sie, wenn Simon auch nicht sagen konnte, ob vor Kälte oder vor Zorn. Es kam eigentlich auch nicht darauf an, so oder so machte es alles noch schlimmer für ihn.

Sie wartet immer noch auf eine Antwort – wie müde und verärgert sie aussieht! Er ließ die Schultern noch deutlicher hängen und warf finstere Blicke auf die eigenen Füße.

»Na, dann komm eben so mit. Der gute Gott weiß, daß ich genug Arbeit habe, um einen faulen Burschen damit in Trab zu halten. Weißt du nicht, daß der König vom Krankenbett aufgestanden und heute in seinen Thronsaal gegangen ist? Bist du denn taub und blind?« Sie packte ihn am Ellenbogen und schob ihn vor sich her durch den Garten.

»Der König? König Johan?« fragte Simon überrascht.

»Nein, du unwissender Knabe, König Wer-weiß-was! Natürlich König Johan!« Rachel blieb auf dem Absatz stehen, um eine dünne Strähne schlaffes, stahlgraues Haar unter die Haube zurückzuschieben. Ihre Hand bebte.

»So, hoffentlich bist du nun glücklich«, sagte sie endlich. »Du hast mich so durcheinandergebracht und aufgeregt, daß ich es geschafft habe, respektlos mit dem Namen unseres guten, alten Königs Johan umzugehen. Und das, wo er so krank ist, und überhaupt.« Sie schniefte laut, beugte sich dann vor und versetzte Simon einen schmerzhaften Klaps auf die dicke Stelle seines Arms. »Komm du nur mit.«

Sie stapfte weiter, den nichtsnutzigen Jungen im Schlepptau.

Simon hatte nie ein anderes Zuhause gekannt als die alterslose Burg mit dem Namen Hochhorst, was soviel bedeutete wie Hohe Feste. Sie trug den Namen zu Recht: Der Grünengel-Turm, ihr höchster Punkt, ragte weit über die ältesten und höchsten Bäume hinaus. Hätte der Engel selbst, der auf der Turmspitze stand, einen Stein aus der grünspanigen Hand fallen lassen, wäre dieser Stein fast zweihundert Ellen in die Tiefe gestürzt, bevor er in den brackigen Burggraben gefallen wäre und dort den Schlaf der gewaltigen Hechte gestört hätte, die dicht über dem jahrhundertealten Schlamm dahintauchten.

Der Hochhorst war weit älter als sämtliche Generationen erkynländischer Bauern, die in den Dörfern und auf den Feldern rund um die große Festung geboren wurden, gearbeitet hatten und gestorben waren. Die Erkynländer waren lediglich die bisher letzten, die Anspruch auf die Burg erhoben – viele andere vor ihnen hatten sie ihr eigen genannt, auch wenn sie niemandem je wirklich ganz gehört hatte. Die Außenmauer um das weitläufige Festungsgelände zeigte das Werk unterschiedlicher Hände und Zeitalter: den rohbehauenen Fels und die groben Balken der Rimmersmänner, das wahllose Flickwerk und die fremdartigen Steinmetzarbeiten der Hernystiri, ja sogar die übersorgfältige Mauerkunst der Handwerker aus Nabban. Alles jedoch überragte der Grünengel-Turm, den die unsterblichen Sithi errichtet hatten, bevor die Menschen ins Land kamen, damals, als sie über ganz Osten Ard herrschten. Die Sithi hatten als erste hier gebaut und ihre vorzeitliche Feste auf der Landzunge gegründet, die über den Kynslagh und die Wasserstraße zum Meer hinausblickte. Asu'a hatten sie ihre Burg genannt; wenn es einen wirklichen Namen hatte, dieses Haus so vieler Herren, dann lautete er Asu'a.

Das Schöne Volk war längst aus den grasigen Ebenen und dem wogenden Hügelland verschwunden, zumeist in die Wälder und zerklüfteten Berge geflohen oder an andere, für Menschen unbewohnbare Stätten. Das Gerippe der Burg, ein Heim für die Räuber der Macht, blieb zurück. Asu'a – der Widerspruch: stolz und schäbig zugleich, festlich und abweisend, scheinbar unberührt vom Wechsel seiner Bewohner. Asu'a – der Hochhorst: Wie ein Gebirge ragte er massig über Umland und Stadt, über seinem Lehen zusammengekauert wie eine schläfrige, honigschnauzige Bärin über ihren Jungen.

Oft hatte es den Anschein, als sei Simon der einzige Bewohner der gewaltigen Burg, der sich in seine Lebensstellung nicht hineinfinden wollte. Die Maurer verputzten die weißgetünchte Verblendung des Wohngebäudes und stützten die bröckelnden Burgmauern – obwohl das Bröckeln manchmal schneller voranzuschreiten schien als die Instandsetzung –, ohne sich je den Kopf darüber zu zerbrechen, wie oder warum die Welt sich drehte. Die Küchen- und Kellermeister pfiffen vergnügt und rollten riesige Fässer mit Südwein und gepökeltem Rindfleisch hierhin und dorthin. An der Seite des Burg-Seneschalls feilschten sie mit den Bauern um die bärtigen Zwiebeln und erdfeuchten Mohrrüben, die jeden Morgen säckeweise in die Küche des Hochhorstes geschleppt wurden. Und Rachel und ihre Kammermädchen hatten immer schrecklich viel zu tun; sie schwangen ihre aus Stroh gebundenen Besen, jagten den Staubflocken nach, als gelte es, ungebärdige Schafe zu hüten, murmelten fromme Verwünschungen über den Zustand, in dem manche Leute bei der Abreise ihre Zimmer hinterließen, und übten eine allgemeine Schreckensherrschaft über die Liederlichen und Nachlässigen aus.

Inmitten all dieses Fleißes war der ungeschickte Simon der sprichwörtliche Grashüpfer im Ameisenhaufen. Er wußte, daß er es nie zu etwas Rechtem bringen würde; das hatten ihm schon viele Leute gesagt, die fast alle erwachsen – und vermutlich klüger als er – waren. In einem Alter, in dem andere Jungen längst lautstark nach männlicher Verantwortung begehrten, war Simon noch ein unsteter Wirrkopf. Ganz gleich, welche Aufgabe man ihm übertrug, schon bald schweifte seine Aufmerksamkeit ab, und er träumte von Schlachten und Recken und Seereisen auf hohen, glänzenden Schiffen … und auf geheimnisvolle Weise zerbrach dann etwas oder ging verloren oder wurde falsch gemacht.

Manchmal war er überhaupt nicht aufzufinden. Wie ein magerer Schatten drückte er sich überall in der Burg herum, konnte so behende wie die Dachdecker und Glaser jede Wand hinaufklettern und kannte so viele Gänge und Verstecke, daß das Burgvolk ihn den »Geisterjungen« nannte. Rachel gab ihm häufig Kopfnüsse und rief ihn »Mondkalb«.