Während er noch so starrte, spürte Simon plötzliche Kälte an seiner Hand, die an die knöcherne Armlehne des Thrones gekommen war. Ein Küchenjunge, der den Thron berührte! Er riß seine Finger los, wobei er sich verwundert fragte, wie die toten Überreste eines so feurigen Tiers sich derart kalt anfühlen konnten, und stolperte einen Schritt zurück.
Einen Augenblick blieb ihm fast das Herz stehen, denn es war, als neigten sich ihm die Statuen langsam zu, als dehnten sich Schatten auf den Wandbehängen. Hastig zog sich Simon zurück. Als nichts mehr folgte, das nach wirklicher Bewegung aussah, richtete er sich mit aller ihm zu Gebot stehenden Würde auf, verneigte sich vor König und Thron und entfernte sich rückwärtsgehend über den Steinboden. Er tastete mit der Hand – ruhig, ruhig, ermahnte er sich, sei kein Angsthase –, bis er endlich die Tür zum Stehraum fand, seinem eigentlichen Ziel. Er sah noch einmal zurück auf das beruhigend unbewegte Bild, dann schlüpfte er hinaus.
Hinter den schweren Wandbehängen des Stehraums mit ihrem dicken, roten, mit Festszenen bestickten Samt führte eine Treppe in der Mauer zu einem Abtritt ganz oben auf der südlichen Galerie des Thronsaales. Simon schimpfte mit sich selber, weil er sich gerade so aufgeregt hatte, und kletterte die Stufen hinauf. Oben angelangt, war es ein leichtes, sich durch den hohen Fensterschlitz des Abtritts zu zwängen und auf die darunterliegende Mauer zu steigen. Allerdings war das Kunststück jetzt ein bißchen mühsamer als im Septander, als er zuletzt hier gewesen war: Die Steine waren glatt vom Schnee, und es wehte ein energischer Wind. Zum Glück war die Mauerkrone breit; Simon bewegte sich vorsichtig fort.
Jetzt kam das Stück, das er am liebsten hatte. Die Ecke der Mauer endete nur fünf oder sechs Fuß vor dem breiten Windschatten des Türmchens im vierten Stock des Grünengel-Turms. Simon blieb stehen und konnte beinahe das Schmettern der Trompeten und das Aneinanderklirren der Ritter hören, die auf den Decks unter ihm fochten, während er sich bereitmachte, durch den brausenden Wind von einem brennenden Mast zum anderen zu springen …
Ob sein Fuß beim Absprung leicht ausgerutscht oder seine Aufmerksamkeit von dem imaginären Seegefecht unter ihm abgelenkt gewesen war – jedenfalls landete Simon unsanft auf der Kante des Türmchens. Er schlug mit dem Knie heftig auf den Stein und wäre um ein Haar zurück- und hinuntergefallen, wobei er zwei lange Faden tief auf die niedrige Mauer am Fuß des Turmes oder in den Burggraben gestürzt wäre. Als ihm jäh bewußt wurde, in welcher Gefahr er geschwebt hatte, begann sein Herz erschreckt zu galoppieren. Aber er schaffte es, sich in den Raum zwischen den hochstehenden Zinnen des Türmchens gleiten zu lassen, um dann auf dem aus langen Dielen bestehenden Fußboden weiterzukriechen.
Leichter Schnee senkte sich auf ihn herunter, als er so dasaß und sich unendlich töricht vorkam. Er umschlang sein schmerzendes Knie, das brannte wie Sünde, Betrug und Verrat; hätte er nicht genau gewußt, wie kindisch er so schon aussehen mußte, hätte er geheult.
Endlich richtete er sich auf und hinkte ins Innere des Turmes. Wenigstens in einem Punkt war das Glück ihm treu geblieben: Niemand hatte seine schmerzhafte Landung gehört. Nur er allein wußte von seiner Schmach. Er untersuchte seine Tasche – Brot und Käse waren unerfreulich plattgedrückt, aber noch eßbar. Auch das war ein kleiner Trost.
Mit dem verletzten Knie Treppen zu steigen war mühsam, aber schließlich hatte es keinen Sinn, in den Grünengel-Turm einzudringen – das höchste Bauwerk im Erkynland, wahrscheinlich sogar in ganz Osten Ard –, und dann nicht über die Höhe der Hauptmauern des Hochhorstes hinauszukommen.
Die Turmtreppe war niedrig und eng, die Stufen aus einem glatten, sauberen weißen Stein gehauen, der keinem anderen in der Burg glich. Er fühlte sich schlüpfrig an, war aber unter den Füßen sicher. Das Burgvolk erzählte sich, der Turm sei der einzige unverändert gebliebene Teil der ursprünglichen Sithifeste. Doktor Morgenes hatte Simon einmal gesagt, daß dies nicht stimmte. Ob er damit aber gemeint hatte, der Turm sei doch verändert worden, oder nur, daß es noch andere unberührte Reste des alten Asu'a gab, hatte der Doktor in seiner eigenwilligen Art nicht erklären wollen.
Nachdem er einige Minuten geklettert war, konnte Simon von den Fenstern aus sehen, daß er schon über dem Hjeldin-Turm war. Die ein wenig unheimliche Kuppelsäule, in der einst der Wahnsinnige König den Tod gefunden hatte, blickte über die weite Fläche des Thronsaaldaches zum Grünengel auf, wie etwa ein eifersüchtiger Zwerg seinen Fürsten anstarrt, wenn niemand ihn beachtet.
Die steinerne Einfassung im Innern des Treppenhauses war hier anders: eine sanfte Rehfarbe, über und über bedeckt mit winzigen, rätselhaften Mustern in Himmelblau. Simon verharrte einen Augenblick an einer Stelle, an der das Licht aus einem hoch oben angebrachten Fenster auf die Wand fiel. Als er aber versuchte, den Windungen eines der zarten blauen Schnörkel mit den Augen zu folgen, wurde ihm schwindlig im Kopf, und er gab es auf.
Endlich, als es ihm schon vorkam, als sei er unter Schmerzen stundenlang bergauf gestiegen, erweiterte sich die Treppe zum blendendweißen Fußboden des Glockenturmes, der ebenfalls aus dem ungewöhnlichen Stein der Treppen bestand. Obwohl der Turm noch fast hundert Ellen höher war und sich dabei bis hinauf zu der Engelsgestalt immer mehr verjüngte, endete die Treppe hier, wo von den gewölbten Dachbalken die großen Bronzeglocken in langen Reihen wie feierliche grüne Früchte hingen. Die Glockenstube selbst stand der kalten Luft nach allen Seiten offen, damit das ganze Land es hören konnte, wenn das Geläut des Grünengels aus den hohen Fensterbögen ertönte.
Simon hatte sich mit dem Rücken an einen der sechs Pfeiler aus dunkelglattem, felshartem Holz gelehnt, die vom Boden zur Decke reichten. Er kaute an seinem Brotkanten und genoß die Aussicht nach Westen, wo die Wasser des Kynslaghs unaufhörlich gegen die massive Seemauer des Hochhorstes rollten. Obwohl es ein trüber Tag war und Schneeflocken wie verrückt vor seinen Augen tanzten, bemerkte Simon mit Staunen, wie klar die Welt dort unten sich seinem Blick entgegenhob. Viele kleine Boote schwammen auf den Wogen des Kynslaghs, Männer vom See in schwarzen Mänteln beugten sich gelassen über die Ruder. Weiter hinten glaubte er undeutlich die Stelle zu erkennen, an der der Gleniwent-Fluß den See verließ und seine lange Reise zum Meer antrat, ein vielfach gewundener Lauf von einem halben Hundert Meilen, vorbei an Dock-Städten und Bauernhöfen. Draußen vor dem Gleniwent, in den Armen des Meeres, bewachte die Insel Warinsten die Flußmündung; hinter Warinsten in westlicher Richtung gab es nichts mehr, nur unzählige, unerforschte Meilen Ozean.
Simon prüfte das schmerzende Knie und entschied sich vorläufig gegen ein Hinsetzen, weil man ja irgendwann einmal wieder aufstehen mußte. Er zog sich den Hut über die Ohren, die vom Wind gerötet waren und brannten, und nahm ein Stück bröckelnden Käse in Angriff. Zu seiner Rechten, allerdings weit außerhalb seines Gesichtsfeldes, lagen die Wiesen und steilen Hügel von Agh Samrath, äußerste Marken des Königreichs Hernystir und Ort der furchtbaren Schlacht, von der Morgenes ihm erzählt hatte. Zur Linken, jenseits des weiten Kynslaghs, wogten die Thrithinge – scheinbar unendliches Grasland. Natürlich hatten sie schließlich doch ein Ende; dahinter lagen Nabban, die Bucht von Firannos mit ihren Inseln und das Marschland von Wran … alles Gegenden, die Simon nie gesehen hatte und höchstwahrscheinlich auch nie zu sehen bekommen würde.
Endlich wurden ihm der ewiggleiche Kynslagh und seine eigenen Vorstellungen von einem Süden, den er nicht sehen konnte, langweilig, und er hinkte zur anderen Seite der Glockenstube hinüber. Vom Mittelpunkt des Raumes aus betrachtet, schien das wirbelnde, gestaltlose Wolkendunkel ein graues Loch zu sein, das ins Nirgendwo führte, und der Turm so etwas wie ein Geisterschiff auf nebligem, ödem Meer. Der Wind heulte und sang um die offenen Fensterhöhlungen, und die Glocken gaben ein schwaches Summen von sich, als habe ihnen der Sturm kleine, verängstigte Geister unter die Bronzehaut gejagt.