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Simon trat an den niedrigen Fenstersims und beugte sich vor, um das wirre Durcheinander der Dächer des Hochhorstes zu überschauen. Zuerst zerrte der Wind an ihm, als wollte er ihn packen und in die Höhe schleudern, so wie ein Kätzchen mit einem welken Blatt spielt. Aber Simon hielt sich fester am feuchten Stein, und bald ließ der Wind nach. Der junge Mann lächelte: Von seiner Warte sah das prachtvolle Dachgewirr des Hochhorstes – ein jedes von unterschiedlicher Höhe und Bauart, mit einem Wald von Schornsteinen, Firstbalken und Kuppeln – aus wie ein Hof voller seltsamer, viereckiger Tiere, von denen eines halb über dem Rücken des anderen hing und die um den Platz kämpften wie Schweine am Trog.

Nur von den beiden Türmen überragt, beherrschte die Kuppel der Burgkapelle den Inneren Zwinger. Graupelschnee bedeckte die farbenprächtigen Fenster. Die weiteren Gebäude der Burg, Wohnquartiere, Speisehalle, Thronsaal und Staatskanzlei, waren samt und sonders von Anbauten überwuchert, stummen Zeugen der unterschiedlichen Besitzer der Burg. Genauso vollgestopft waren die äußeren Zwinger und die massive Zwischenmauer, die sich in konzentrischen Kreisen, einer tiefer als der andere, über den Berg zogen. Der Hochhorst selbst war niemals über seine Außenmauer hinausgewachsen; die hereindrängenden Menschen bauten in die Höhe oder teilten das Vorhandene in kleinere und immer kleinere Einheiten.

Unterhalb der Festung erstreckte sich die Stadt Erchester, Straße an Straße mit niedrigen Häusern, in einen Mantel aus weißen Schneewehen gehüllt; nur der Dom erhob sich aus ihrer Mitte, seinerseits überragt vom Hochhorst und von Simon in seinem Himmelsturm. Hier und da schwebte ein federleichter Rauchfaden nach oben, den der Wind zerfetzte.

Hinter den Stadtmauern konnte Simon die unbestimmten, vom Schnee geglätteten Umrisse der Begräbnisstätte ausmachen – des alten Heidenfriedhofes, eines übel beleumundeten Ortes. Die niedrigen Grashügel in seinem Rücken reichten fast bis zum Waldrand; über ihrer demütigen Gemeinde erhob sich der steile Berg Thisterborg so stolz wie der Dom über die niedrigen Dächer von Erchester. Simon konnte sie nicht sehen, wußte aber, daß ein Ring aus Steinsäulen, glattpoliert vom Wind, seinen Gipfel krönte; die Dorfbewohner nannten sie ›die Zornsteine‹.

Und jenseits von Erchester, noch hinter Begräbnisstätte, Grashügeln und steinbekränztem Thisterborg, lag der Wald. Aldheorte hieß er, Altherz, und dehnte sich aus wie das Meer, unendlich, dunkel und undurchschaubar. Menschen lebten an seinem Saum und hatten sogar ein paar Straßen entlang seiner Ränder angelegt; aber nur sehr wenige wagten sich weiter in sein Inneres. Er bildete ein eigenes, großes, schattenreiches Land mitten in Osten Ard, das keine Gesandten schickte und nur selten Besucher empfing. Im Vergleich zu seiner Erhabenheit schien selbst der riesige Circoille, der Kammwald von Hernystir im Westen, nichts als ein Wäldchen. Es gab nur einen Wald.

Das Meer im Westen; der Wald im Osten; der Norden und seine Männer aus Eisen; das Land der zerschmetterten Reiche im Süden – weit blickte Simon hinaus über das Antlitz von Osten Ard und vergaß für eine Weile sein Knie. Ja, eine Zeitlang war Simon selbst König der ganzen bekannten Welt.

Als die verhangene Wintersonne den Scheitel des Himmels verlassen hatte, rüstete Simon sich endlich zum Aufbruch. Beim Versuch, das Bein auszustrecken, keuchte er vor Schmerz; in der langen Stunde am Fenstersims war das Knie steif geworden. Es war völlig klar, daß er den anstrengenden Geheimweg für den Abstieg vom Glockenturm nicht benutzen konnte. Er mußte sein Glück mit Barnabas und Vater Dreosan versuchen.

Die lange Treppe war eine einzige Qual, aber die Aussicht vom Turm hatte alle Wehleidigkeit verdrängt; er bedauerte sich selbst nicht halb so sehr, wie er es ohne dieses Erlebnis getan hätte. Wie ein niedrig gehaltenes Feuer glühte in ihm der Wunsch, mehr von der Welt zu sehen, und wärmte ihn bis in die Fingerspitzen. Er würde Morgenes bitten, ihm weiteres über Nabban und die Südlichen Inseln zu erzählen, und auch über die Sechs Könige.

Im vierten Stock, dort, wo er ursprünglich hereingekommen war, hörte er ein Geräusch: Unter ihm rannte jemand die Treppe hinab. Sekundenlang verharrte Simon regungslos und überlegte, ob er entdeckt worden war. Es war nicht verboten, den Turm zu betreten, aber er hatte keinen triftigen Grund dafür, und der Küster würde vermuten, daß er irgend etwas ausgefressen hätte. Trotzdem war es sonderbar, daß die Schritte sich entfernten. Ganz bestimmt wäre Barnabas oder jeder andere ohne Zögern zu ihm hinaufgestiegen, um ihn am vielgeplagten Schlafittchen nach unten zu zerren. Simon kletterte weiter die Wendeltreppe hinunter, zuerst ganz vorsichtig, dann trotz des schmerzenden Knies immer schneller, denn die Neugier hatte ihn gepackt.

Die Treppe endete in der großen Eingangshalle des Turmes, die schwach erleuchtet war; die Wände und verblaßten Wandbehänge lagen in Schatten gehüllt. Keine Schritte – und auch sonst nichts. So geräuschlos wie möglich lief Simon über den Steinfußboden. Jedes versehentliche Kratzen seiner Stiefel stieg zischend bis zu den Eichenrippen der Decke empor. Die Haupttür der Halle war geschlossen; das einzige Licht fiel durch die Fenster über dem Türsturz.

Wie konnte jemand, der eben noch auf der Treppe gewesen war, unbemerkt die riesige Tür geöffnet und wieder geschlossen haben? Simon hatte die leichten Schritte sofort gehört und sich selber Sorgen über das Quietschen gemacht, das die großen Angeln verursachen würden. Noch einmal blickte er sich prüfend in der Eingangshalle um.

Da! Unter der Fransenborte des fleckigen Silbergobelins neben der Treppe lugten zwei kleine, abgerundete Gebilde hervor – Schuhe. Bei genauerer Betrachtung erkannte er auch, wie sich dort, wo sich jemand versteckt hielt, die Falten des alten Wandbehanges bauschten.

Auf einem Fuß balancierend wie ein Reiher, zog er leise erst den einen, dann den anderen Stiefel aus. Wer konnte es sein? Vielleicht der dicke Jeremias, der ihm nachgeschlichen war, um ihm einen Streich zu spielen? Nun, wenn das der Fall war, würde Simon es ihm schon zeigen.

Mit nackten Füßen, und damit auf den Steinen fast ohne einen Laut, schlich er durch die Halle, bis er unmittelbar vor der verdächtigen Ausbuchtung stand. Als er die Hand nach dem Wandbehang ausstreckte, fiel ihm plötzlich der seltsame Satz ein, den Bruder Cadrach, als sie dem Puppenspiel zugeschaut hatten, über Vorhänge gesagt hatte. Simon zögerte, schämte sich dann aber seiner Ängstlichkeit und riß den Wandbehang zur Seite.

Anstatt aufzufliegen und den Spion zu enthüllen, riß der schwere Gobelin jedoch aus seinen Halterungen und fiel wie eine schwere, brettsteife Decke nach unten. Simon erhaschte nur einen schnellen Blick auf ein kleines, erschrecktes Gesicht, bevor das Gewicht des Wandteppichs ihn niederstreckte. Während er noch fluchend und strampelnd, völlig in den Stoff verwickelt, dalag, schoß eine braungekleidete Gestalt an ihm vorbei.

Simon konnte hören, wie der andere, wer immer es auch sein mochte, sich mit der schweren Tür abplagte, während er mit dem staubigen Tuch rang, das ihn bedeckte. Endlich kam er frei, rollte auf die Füße und machte einen Satz quer durch den ganzen Raum, um die kleine Gestalt zu packen, bevor sie noch durch die bereits einen Spalt geöffnete Tür davonhuschen konnte. Es gelang ihm, mit festem Griff das grobe Wams zu erwischen. Zwischen Tür und Angel war der Spion gefangen.