Inzwischen war Simon ernstlich zornig, hauptsächlich aus Ärger über sein eigenes Ungeschick. »Wer bist du?« fauchte er. »Du Leutebespitzler!« Der Gefangene antwortete nicht, sondern zerrte nur noch stärker. Aber wer immer er war, seine Kraft reichte nicht aus, um sich aus Simons Griff loszureißen.
Noch während er sich anstrengte, den Widerstrebenden durch die Tür zurückzuziehen – alles andere als eine leichte Aufgabe –, erkannte Simon verblüfft den sandfarbenen Brokat zwischen seinen Händen. Das mußte derselbe Junge sein, der an der Kapellentür gelauscht hatte! Simon zog mit aller Macht und riß endlich Kopf und Schultern des Fremden durch den Türrahmen, so daß er ihn ansehen konnte.
Der Gefangene war klein, mit feinen, fast scharfen Zügen. Nase und Kinn hatten etwas leicht Füchsisches, das jedoch nicht unangenehm wirkte. Die Haare waren schwarz wie Krähenflügel. Einen Moment lang dachte Simon, es könne ein Sitha sein – wegen seiner geringen Größe –, und versuchte, sich an Shems Geschichten zu erinnern, daß man den Fuß eines Pukas nicht loslassen dürfte, damit man einen Kessel Gold von ihm gewann, aber bevor er noch etwas von diesem geträumten Schatz ausgeben konnte, sah er den Angstschweiß und die geröteten Wangen und fand, daß dies hier kein übernatürliches Wesen war.
»Wie heißt du eigentlich?« fragte er. Der gefangene Junge versuchte von neuem, sich loszureißen, war jedoch offensichtlich allzu erschöpft. Gleich darauf hörte er ganz auf, sich zu wehren.
»Dein Name?« beharrte Simon, diesmal in milderem Ton.
»Malachias.« Keuchend wandte der Junge sich ab.
»Also gut, Malachias, warum verfolgst du mich?« Er rüttelte den anderen leicht an der Schulter, nur um ihn zu erinnern, wer hier wen gefangenhielt.
Der Junge fuhr herum und starrte ihn finster an. Seine Augen waren ganz dunkel.
»Ich habe dir nicht nachspioniert!« entgegnete er heftig.
Wieder wandte er das Gesicht ab, aber Simon hatte plötzlich das Gefühl, etwas Vertrautes im Gesicht dieses Malachias entdeckt zu haben, etwas, das er eigentlich erkennen müßte.
»Und wer bist du, Bürschchen?« fragte Simon und streckte die Hand aus, um das Kinn des Jungen zu sich zu drehen. »Arbeitest du in den Ställen – arbeitest du überhaupt hier auf dem Hochhorst?«
Bevor er aber das Gesicht umdrehen und noch einmal anschauen konnte, stemmte ihm Malachias plötzlich beide Hände gegen die Brust und versetzte ihm einen unerwartet harten Stoß. Das Wams des Jungen wurde Simon aus der Hand gerissen, er taumelte zurück und landete auf dem Hosenboden. Bevor er auch nur den Versuch machen konnte, wieder aufzustehen, war Malachias durch die Tür entwischt und hatte sie mit lautem, hallendem Kreischen der bronzenen Angeln hinter sich zugeschlagen.
Simon saß immer noch auf dem Steinboden – schmerzendes Knie, schmerzendes Hinterteil und tödlich verletzte Würde schrien nach Beachtung –, als Barnabas der Küster aus dem Gang zur Staatskanzlei herbeigeeilt kam, um die Ursache des Lärms zu untersuchen. Wie vom Donner gerührt, blieb er in der Tür stehen und blickte vom stiefellos auf den Fliesen hockenden Simon auf den heruntergerissenen und zerwühlten Wandbehang neben dem Treppenhaus und von dort wieder auf Simon. Barnabas sagte kein Wort, aber ganz oben in seinen Schläfen begannen Adern zu pochen, und seine Brauen zogen sich zusammen und senkten sich nach unten, bis die Augen nur noch winzige Schlitze waren.
Simon, überrumpelt und hilflos, konnte nur noch sitzenbleiben und den Kopf schütteln wie ein Trunkenbold, der über den eigenen Krug gestolpert und auf der Katze des Bürgermeisters gelandet ist.
VI
Das Steinmal auf den Klippen
Zur Strafe für diese letzte Untat wurde Simon seines neuen Amtes als Lehrling entsetzt und zu Arrest in den Dienstbotenquartieren verurteilt. Tagelang wanderte er durch die Grenzen seines Gefängnisses, von der Spülküche zu den Wäschekammern und wieder zurück, rastlos wie ein Falke unter der Haube.
Das habe ich mir selbst zuzuschreiben, dachte er manchmal. Ich bin wirklich so dumm, wie der Drache sagt.
Und zu anderen Zeiten schäumte er: Warum machen sie mir alle soviel Ärger? Man könnte glauben, ich sei ein wildes Tier, dem man nicht trauen könne.
Rachel, die ein gewisses Mitleid hegte, fand eine Reihe kleinerer Aufgaben, um ihn zu beschäftigen, so daß die Tage nicht ganz so öde verstrichen, wie es hätte sein können; aber das diente Simon nur als weiterer Beweis dafür, daß er auf ewig ein Karrengaul bleiben sollte. Er würde bringen und holen, bis er zu alt war, um überhaupt noch zu arbeiten, und dann würde man ihn hinaus hinter die Burg führen und ihm mit Shems abgesplittertem Holzhammer den Schädel einschlagen.
So schlichen die letzten Novandertage vorüber, und schon kroch der Decander zur Tür herein wie ein heimlicher Dieb.
Am Ende der zweiten Woche des neuen Monats bekam Simon seine Freiheit wieder – wenn man es so nennen konnte. Der Grünengel-Turm und bestimmte andere Lieblingsplätze wurden ihm verboten; seinen Dienst beim Doktor durfte er zwar wieder aufnehmen, jedoch ergänzt durch zusätzliche Aufgaben, die es erforderlich machten, daß er sich zur Essenszeit stets wieder in den Dienstbotenquartieren einfand. Aber selbst diese nur kurzen Besuche beim Doktor bedeuteten eine erhebliche Verbesserung. Tatsächlich sah es so aus, als verlasse sich Morgenes immer mehr auf Simon. Er lehrte ihn eine Menge Dinge über den Gebrauch und die Pflege der phantastischen Vielfalt von Merkwürdigkeiten, von denen seine Werkstatt überquoll. Außerdem lernte Simon – unter Schmerzen – lesen. Es war unendlich viel mühsamer, als Böden zu fegen oder staubige Destillierkolben und Becher auszuwaschen, aber Morgenes trieb ihn mit entschlossener Hand an und erklärte, ohne Alphabet könne aus Simon niemals ein brauchbarer Lehrling werden.
An Sankt-Tunath, dem einundzwanzigsten Decander, herrschte auf dem Hochhorst geschäftiges Treiben. Der Tag dieses Heiligen war der letzte hohe Feiertag vor Ädonmeß, und man bereitete ein großes Festmahl vor. Dienstmägde umkränzten Dutzende schlanker, weißer Bienenwachskerzen, die alle bei Sonnenuntergang angezündet werden sollten, mit Mistel- und Stechpalmenzweigen. Aus jedem Fenster würde der Schein ihrer Flammen strömen und den umherwandernden Sankt Tunath aus der Mittwinterdunkelheit hereinholen, damit er die Burg und ihre Bewohner segnete. Andere Bediente stapelten pechfeuchte, frischgespaltene Holzscheite in den Kaminen auf oder streuten neue Binsen auf die Fußböden.
Simon, der den ganzen Nachmittag sein Bestes getan hatte, um nicht aufzufallen, wurde trotzdem entdeckt und zu Doktor Morgenes geschickt, wo er herausfinden sollte, ob dieser irgendein für Polierzwecke geeignetes Öl besäße – Rachels Truppen hatten sämtliche Vorräte aufgebraucht, um der Großen Tafel blendenden Glanz zu verleihen, und die Arbeit in der Haupthalle war noch lange nicht beendet. Simon, der schon den ganzen Morgen in der Wohnung des Doktors damit zugebracht hatte, laut – ein zögerndes Wort nach dem anderen – in einem Buch mit dem Titel »Die unfelbarn Heylmittel der Wranna-Heyler« zu lesen, zog dennoch alles, was Morgenes von ihm verlangen mochte, dem Grauen von Rachels stählernem Blick vor. Geschwind wie ein Vogel entflog er der Haupthalle, vorbei an der langen Kanzleihalle und hinaus auf den Inneren Anger unterhalb des Grünengels. Sekunden später hatte er wie ein flüchtiger Sperber die Zugbrücke überquert, und es waren nur Augenblicke vergangen, bis er zum zweiten Mal an diesem Tag vor der Tür des Doktors stand.
Eine ganze Weile reagierte Morgenes nicht auf sein Klopfen, obwohl Simon von innen Stimmen vernahm. Er wartete so geduldig er konnte, kratzte inzwischen lange Splitter aus dem verwitterten Türrahmen, und endlich öffnete der alte Mann. Der Doktor hatte Simon zwar erst vor kurzer Zeit entlassen, machte jedoch keine Bemerkung über seine Rückkehr. Ohne ein Wort ließ er den jungen Mann eintreten; Simon, der seine seltsame Stimmung spürte, folgte ihm schweigend durch den von Lampen erhellten Korridor.