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Allerdings setzte Ranessin Hoffnungen auf Elias. Der Prinz war unzweifelhaft mutig, entschlußkräftig, kühn – sämtlich Eigenschaften, die Söhne großer Männer nur selten besitzen; freilich war er auch jähzornig und ein wenig unbedacht, aber das – Duos wulstei – waren Fehler, die durch das Tragen von Verantwortung und durch guten Rat oft geheilt oder doch zumindest gemildert wurden.

Als er die Höhe der Kynslagh-Treppe erreicht und mit seinem hinterherkeuchenden Gefolge den Königsweg betreten hatte, der um die Mauern von Erchester herumführte, nahm der Lektor sich vor, dem neuen König einen zuverlässigen Ratgeber als Helfer zu senden, der freilich auch mit wachsamem Auge auf das Wohl der Kirche achten sollte, jemanden wie Velligis oder den jungen Dinivan – nein, von Dinivan würde er sich nicht trennen. Auf jeden Fall wollte Ranessin einen Mann finden, der ein Gegengewicht zu Elias' blutdürstigen jungen Edelleuten bildete – und zu diesem aufgeblasenen Schwachkopf Bischof Domitis.

Der erste Feyever, der Tag vor Elysiameß – Liebfrauentag –, dämmerte hell, kalt und klar. Die Sonne hatte kaum die spitztürmigen Gipfel des fernen Gebirges erklommen, als auch schon eine langsame, feierliche Menge in die Kapelle des Hochhorstes zu strömen begann. Der Leichnam des Königs lag auf einer mit Goldstoff und schwarzen Seidenbändern verkleideten Bahre vor dem Altar.

Simon betrachtete die Edelleute in ihren reichen, düsteren Gewändern mit grollender Faszination. Er war, geradewegs aus der Küche kommend, auf die unbenutzte Chor-Empore gestiegen und trug sogar noch sein soßenfleckiges Hemd; selbst hier, zusammengekauert im Schatten versteckt, schämte er sich seiner armseligen Kleidung.

Und ich als einziger Bedienter hier, dachte er. Der einzige von allen, der mit unserem König in der Burg gewohnt hat. Woher kommen bloß diese aufgeputzten Herren und Damen? Er erkannte nur wenige wieder – Herzog Isgrimnur, die beiden Prinzen und ein paar andere.

Irgend etwas stimmte daran nicht, daß die dort unten in der Kapelle Sitzenden in ihren Trauerseiden so prächtig aussahen, während auf ihm der Gestank der Spülküche lag wie eine Decke – aber was war es, was hier falsch war? Sollte man den Küchenhelfer der Burg im Kreis der Edlen willkommen heißen? Oder lag die Schuld bei ihm, weil er es gewagt hatte, sich hier einzudrängen?

Und was ist, wenn König Johan alles beobachtet? Bei dem Gedanken überlief es Simon kalt. Wenn er von irgendwoher zusieht? Wird er Gott erzählen, daß ich mich mit meinem dreckigen Hemd hier eingeschlichen habe?

Als letzter trat Lektor Ranessin ein, angetan mit dem vollen Ornat seiner heiligen Amtsgewänder in Schwarz, Silber und Gold. Auf dem Kopf trug er einen Kranz aus geweihten Ciyanblättern, in der Hand Weihrauchfäßchen und Stab aus schwarzem Onyx. Mit einer Gebärde forderte er die Menge zum Niederknien auf und begann mit dem Eingangsgebet der Mansa-sea-Cuelossan, der Totenmesse. Als er in volltönendem Nabbanai, immer noch mit einem winzigen Akzent, den Text sprach, war es Simon, als scheine ein Licht auf Priester Johans Gesicht und als könne er den König einen Augenblick lang so sehen, wie er damals anzuschauen gewesen war, als er zum ersten Mal mit leuchtenden Augen, schmutzig vom Kampf, aus den Toren des gerade erst eroberten Hochhorstes geritten war. Wie sehr wünschte Simon sich, ihn damals erblickt zu haben!

Als die zahlreichen Gebete beendet waren, erhob sich der versammelte Adel, um das Cansim Falis zu singen; Simon begnügte sich damit, die Worte lautlos mitzusprechen. Nachdem die Trauernden wieder Platz genommen hatten, begann Ranessin seine Rede, zur Überraschung aller nicht in Nabbanai, sondern in der ländlichschlichten Sprache der Westerlinge, die Johan zur gemeinsamen Sprache seines Reiches gemacht hatte.

»Erinnern wir uns«, intonierte Ranessin, »daß, als der letzte Nagel in den Hinrichtungsbaum geschlagen worden war und man unseren Herrn Usires dort in furchtbaren Qualen zu Tode marterte, eine edle Frau aus Nabban namens Pelippa, Tochter eines mächtigen Ritters, ihn hängen sah und ihr Herz von Mitleid für sein Leiden erfüllt wurde. Als nun in dieser Ersten Nacht, in der Usires sterbend und einsam am Baume hing – denn man hatte seine Jünger mit Geißeln aus dem Hof des Tempels gejagt –, die Dunkelheit hereinbrach, da kam sie zu ihm und brachte ihm Wasser, und sie gab es ihm mit ihrem kostbaren Tuch, das sie in eine goldene Schale tauchte und an seine ausgedörrten Lippen führte.

Und als sie ihn tränkte, weinte Pelippa über die Pein des Erlösers und sprach zu ihm: ›Armer Mensch, was hat man dir getan?‹ Usires antwortete ihr: ›Nichts, wofür der arme Mensch nicht geboren wäre.‹

Da weinte Pelippa wiederum und sprach: ›Aber es ist schrecklich genug, daß sie dich um deiner Worte willen töten, ohne daß sie dich auch noch mit dem Kopf nach unten aufhängen, um dich zu demütigen.‹ Und Usires der Bekehrer sagte: ›Tochter, es ist nicht von Bedeutung, wie ich hänge, denn ich sehe trotzdem Gott, meinem Vater, mitten ins Angesicht.‹

Und das…«, der Lektor senkte seinen Blick auf die Versammlung, »… was unser Herr Usires hier gesagt hat, das können auch wir von unserem geliebten König sagen. Das einfache Volk unten in der Stadt erzählt, Johan Presbyter sei nicht von uns gegangen, sondern bleibe bei uns, um über sein Volk und sein Osten Ard zu wachen. Das Buch Ädon verheißt, daß er schon jetzt in unseren herrlichen Himmel voller Licht und Musik und blauer Berge emporgestiegen ist. Andere, wie unsere Brüder in Hernystir, werden sagen, er sei zu den übrigen Helden gegangen, die in den Sternen wohnen. Aber darauf kommt es nicht an. Denn wo immer er jetzt auch weilen mag, er, der einst der junge König Johan war, ob er in leuchtenden Bergen oder den Gefilden der Sterne thront, dieses eine wissen wir: daß er voller Seligkeit in Gottes Angesicht schaut…«

Als der Lektor seine Rede beendet hatte, standen selbst seine eigenen Augen voller Tränen. Die letzten Gebete wurden gesprochen, und die Trauergemeinde verließ die Kapelle.

Simon sah in ehrfürchtigem Schweigen zu, wie König Johans schwarzgekleidete Leibdiener ihm die letzte Ehre erwiesen, ihn umschwärmten wie Käfer eine abgestürzte Libelle und ihn mit seinem königlichen Gewand und seiner Kriegsausrüstung bekleideten. Er wußte, daß er sich hätte entfernen müssen – das hier ging weit über Einschleichen und Lauschen hinaus und grenzte an Gotteslästerung –, aber er konnte sich nicht vom Fleck rühren. Furcht und Trauer waren einem seltsamen Gefühl der Unwirklichkeit gewichen. Alles kam ihm wie ein Festspiel, ein Mummenschanz vor, bei dem die Figuren sich in ihren Rollen so steif bewegten, als seien ihre Glieder zu Eis gefroren, aufgetaut und wiederum eingefroren.

Die Diener des toten Königs hüllten ihn in seine eisweiße Rüstung und schoben ihm die gefalteten Handschuhe in das Wehrgehenk, ließen jedoch die Füße bloß. Über den Brustharnisch zogen sie ein langes, himmelblaues Wams und legten dem Toten einen glänzend scharlachroten Mantel um die Schultern, und bei all dem bewegten sie sich so langsam, als litten sie an einem Fieber. Haar und Bart wurden zu Kriegszöpfen geflochten, und der eiserne Reif, das Zeichen der Herrschaft über den Hochhorst, wurde auf seine Stirn gesetzt. Zum Schluß zog Noah, der alte Knappe des Königs, Fingils eisernen Ring hervor, den er bis dahin zurückgehalten hatte; die plötzlichen Laute seines Kummers zerbrachen die lastende Stille. Noah schluchzte so bitterlich, daß Simon sich fragte, wie er vor lauter Tränen überhaupt genug sehen konnte, um dem König den Ring an den weißen Finger zu stecken.