Endlich hoben die schwarzgekleideten Käfer den Leichnam wieder auf die Bahre. Bedeckt von seinem Überwurf aus Goldstoff, wurde er zum letzten Mal aus seiner Burg getragen, drei Männer auf jeder Seite. Dahinter folgte Noah mit dem drachengekrönten Kriegshelm des Königs. Oben im Schatten der Empore tat Simon einen tiefen Atemzug – ihm war, als hätte er eine Stunde lang die Luft angehalten. Der König war fort.
Als Herzog Isgrimnur sah, wie Johan der Priester durch das Nerulagh-Tor getragen wurde und die Prozession des Adels sich hinter ihm zu ordnen begann, überkam ihn ein sonderbares, unsicheres Gefühl wie ein Traum vom Ertrinken.
Sei kein Esel, Alter, sagte er zu sich selber. Niemand lebt ewig – auch wenn Johan ein großes Stück davon geschafft hat.
Das Merkwürdige daran war, daß Isgrimnur immer gewußt hatte, selbst als sie Seite an Seite in der tobenden Hölle der Schlacht gestanden hatten und die schwarzgefiederten Thrithing-Pfeile an ihnen vorübergezischt waren wie Uduns – verdammt: wie Gottes Blitze, daß Johan Presbyter im Bett sterben würde. Diesen Mann im Krieg zu sehen hieß einen vom Himmel Gesalbten sehen, unberührbar und gebieterisch, einen Mann, der lachte, als Blutnebel den Himmel verdunkelte. Wäre Johan ein Rimmersmann gewesen – Isgrimnur lächelte innerlich –, hätte er ganz gewiß zu den Berserkern gehört.
Aber nun ist er tot, und das ist schwer zu begreifen. Seht sie doch an, diese Ritter und Herren … sie haben auch geglaubt, er würde ewig leben. Jetzt haben die meisten Angst.
Elias und der Lektor hatten gleich hinter der Bahre des Königs Aufstellung genommen. Isgrimnur, Prinz Josua und die blondhaarige Prinzessin Miriamel, Elias' einziges Kind, folgten dichtauf. Auch die anderen hochgestellten Familien standen auf ihren Plätzen, ohne das sonst übliche Gedrängel um die günstigsten Positionen. Als der Leichnam dann über den Königsweg nach dem Vorgebirge getragen wurde, schloß sich hinten auch das einfache Volk an, eine riesige Menge, von der Prozession eingeschüchtert und zum Verstummen gebracht.
Auf einem Bett aus langen Pfählen lag am Fuße des Königsweges die Seepfeil, das Boot des Königs. In ihr, so hieß es, sollte Johan einst von den Inseln der Westerlinge nach Erkynland gekommen sein. Es war nur ein kleines Fahrzeug, kaum mehr als fünf Ellen lang; Isgrimnur bemerkte erfreut, daß man das Holz frisch lackiert hatte, damit es in der trüben Feyeversonne schimmerte.
Götter, wie hat er dieses Boot geliebt! erinnerte sich der Herzog. Sein Amt als König hatte Johan wenig Zeit für das Meer gelassen, aber Isgrimnur entsann sich einer wilden Nacht vor dreißig Jahren oder noch mehr, als der König in einer solchen Stimmung gewesen war, daß es nur noch eines für ihn gab: Er und Isgrimnur, damals noch ein junger Mann, mußten die Seepfeil auftakeln und auf den windgepeitschten Kynslagh hinausfahren. Die Luft war so kalt gewesen, daß sie biß. Johan, fast siebzig Jahre alt, hatte gejohlt und gelacht, als die Seepfeil in der hohen Dünung bockte, während Isgrimnur, dessen Ahnen sich lange vor seiner Zeit für das Festland entschieden hatten, das Schanzkleid umklammert und zu seinen zahlreichen alten Göttern und dem einen neuen Gott gebetet hatte.
Jetzt legten die Diener und Soldaten des Königs den Leichnam ganz sanft in das Boot, wobei sie ihn auf ein Gestell hinunterließen, das man für die Bahre vorbereitet hatte. Vierzig Krieger der königlichen Erkyngarde ergriffen sodann die langen Pfähle und legten sie auf ihre Schultern. Sie hoben das Boot auf und trugen es fort.
Der König und die Seepfeil führten die gewaltige Menschenmenge eine halbe Meile um das Vorgebirge über der Bucht herum, bis sie endlich Swertclif und das Grab erreichten. Man hatte das darüber errichtete Zelt entfernt, und das Loch neben den sechs feierlichen runden Grabhügeln der früheren Gebieter des Hochhorstes glich einer offenen Wunde.
Auf der einen Seite der Grube erhob sich ein massiver Stapel ausgeschnittener Grassoden, daneben ein Hügel aus Steinen und unbehauenem Holz. Auf der anderen Seite, wo man die Erde im flachen Winkel aufgegraben hatte, wurde die Seepfeil niedergesetzt. Sobald das Boot stand, traten der Reihe nach die adligen Familien Erkynlands und die Dienerschaft des Hochhorstes heran, um kleine Dinge als Zeichen ihrer Liebe in das Boot oder das Grab zu legen. Außerdem war aus jedem Land, das unter dem Hohen Schutz des Königs gestanden hatte, ein besonders bedeutendes Kunstwerk geschickt worden, das Johan der Priester mit in den Himmel nehmen sollte – ein Gewand aus kostbarer Seide von der Insel Risa etwa kam aus Perdruin, ein weißer Porphyr-Baum aus Nabban. Isgrimnurs Leute hatten aus Elvritshalla in Rimmersgard eine silberne Axt mitgebracht, Dwerningswerk, bergblaue Juwelen am Heft. Lluth, König der Hernystiri, hatte aus dem Taig von Hernysadharc einen langen Eschenholzspeer gesandt, überall mit rotem Gold eingelegt und mit goldener Spitze.
Die Mittagssonne schien viel zu hoch am Himmel zu stehen. So dachte zumindest Herzog Isgrimnur, als auch er endlich vortrat. Obwohl sie ungehindert über das graublaue Himmelsgewölbe wanderte, schien sie ihre Wärme zurückzuhalten. Der Wind wehte schärfer und tanzte wirbelnd über das Kliff. Isgrimnur trug Johans abgeschabte Kriegsstiefel in der Hand. Er brachte es nicht über sich, zu den weißen Gesichtern hinaufzusehen, die glitzernd wie Schneeflecken im tiefen Wald aus der Menge spähten.
Als er sich der Seepfeil näherte, warf er einen letzten Blick auf seinen König. Bleicher als die Brust einer Taube sah Johan doch so streng und großartig und voll von schlafendem Leben aus, daß Isgrimnur sich dabei ertappte, daß er sich Sorgen um seinen alten Freund machte, der ohne Decke draußen im Wind lag. Sekundenlang hätte er fast gelächelt.
Johan hat immer gesagt, ich hätte das Herz eines Bären und den Verstand eines Ochsen, schalt Isgrimnur sich selber. Und wenn es hier oben schon kalt ist, wie kalt wird er es erst in der gefrorenen Erde haben …
Vorsichtig, aber sicher schritt Isgrimnur über die steile Rampe aus Erde; wenn nötig, stützte er sich mit der Hand ab. Obwohl ihm dabei der Rücken fürchterlich schmerzte, wußte er, daß niemand so etwas von ihm denken würde, und er war noch nicht so alt, daß er nicht ein bißchen stolz darauf gewesen wäre.
Nacheinander nahm er Johan Presbyters blaugeäderte Füße in die Hand und zog ihnen die Stiefel über. Innerlich lobte er die geschickten Hände im Haus der Vorbereitung für die Leichtigkeit, mit der er diese Aufgabe erfüllen konnte. Ohne seinem Freund noch einmal ins Gesicht zu sehen, nahm er schnell die Hand des Königs und küßte sie. Dann schritt er davon, und es war ihm noch viel seltsamer ums Herz als zuvor. Plötzlich kam es ihm vor, als sei es nicht die leblose Hülle seines Königs, die man da der Erde anvertraute, während die Seele frei davonflatterte wie ein frisch entfalteter Schmetterling. Die Geschmeidigkeit der Glieder, das so vertraute, ruhevolle Gesicht – wie Isgrimnur es unzählige Male erblickt hatte, wenn der König in einer Schlachtpause ein paar Stunden Schlaf ergattert hatte –, das alles gab Isgrimnur ein Gefühl, als lasse er einen lebendigen Freund im Stich. Auch wenn er wußte, daß Johan Presbyter tot war, weil er die Hand des Königs gehalten hatte, als dieser die letzten Atemzüge tat, fühlte er sich trotzdem wie ein Verräter.
So besessen war er von seinen Gedanken, daß er beinahe mit Prinz Josua zusammengestoßen wäre, der ihm auf seinem Weg zum Grabhügel geschickt auswich. Isgrimnur erkannte entsetzt, daß Josua auf einem grauen Tuch Johans Schwert Hellnagel vor sich hertrug.