»Hier«, meinte er. »Den wollte ich eigentlich stehlen, Meister Simon, aaber ich finde, wir sollten statt dessen gegenseitig auf unsere Gesundheit und das Andenken des alten Königs trinken – und bitte nenn mich nicht ›Herr‹, denn ich bin keiner.« Er klopfte mit dem Becher an die Kanne, bis Simon ihm nochmals eingoß. »Na also!« erklärte der Fremde. »Und nun nenn mich Sangfugol – oder, wie der alte Isgrimnur es verstümmelt, ›Zongvogol‹.«
Der Fremde ahmte den Rimmersgard-Akzent so hervorragend nach, daß Simon ein winziges Lächeln zustande brachte. Nachdem er sich verstohlen nach Rachel umgeschaut hatte, setzte er die Kanne hin und führte den Becher, den Sangfugol ihm gegeben hatte, an den Mund. Der rote Wein, stark und sauer, floß wie Frühlingsregen durch seine ausgedörrte Kehle; als er den Becher senkte, war sein Lächeln wesentlich breiter geworden.
»Gehört Ihr zu Herzog Isgrimnurs … Gefolge?« fragte Simon und wischte sich mit dem Ärmel die Lippen.
Sangfugol lachte. Er schien schnell belustigt.
»Gefolge! Was für ein Wort für einen Jungen, der Getränke bringt! Nein, ich bin Josuas Harfner. Ich wohne auf seiner Burg Naglimund, im Norden.«
»Liebt der Prinz denn die Musik?« Aus irgendeinem Grund überraschte Simon dieser Gedanke. Er goß sich noch einen Becher ein.
»Er sieht immer so ernst aus.«
»Er ist auch ernst … aber das heißt doch nicht, daß er die Harfe oder das Lautenspiel geringschätzen muß. Es stimmt zwar, daß er meist meine melancholischen Lieder vorzieht, aber es gibt auch Zeiten, in denen er die ›Ballade vom Dreibeinigen Tom‹ oder anderes in dieser Art hören will.«
Bevor Simon weiterfragen konnte, gab es an der Haupttafel großes Gejohle und Heiterkeit. Simon drehte sich um und sah, daß Fengbald einem anderen Mann einen Humpen Wein in den Schoß geschüttet hatte. Der andere, der betrunken war, wrang sein Hemd aus, während Elias und Guthwulf und der Rest der Edelleute spotteten und grölten. Nur der kahle Fremde im Scharlachgewand beteiligte sich nicht daran. Seine Augen blieben kalt, und ein schmales Lächeln entblößte die Zähne.
»Wer ist das?« wandte sich Simon wieder Sangfugol zu, der seinen Becher ausgetrunken hatte und jetzt die Laute ans Ohr hielt, an den Saiten zupfte und ganz leicht an den Wirbeln drehte. »Ich meine den Mann in Rot.«
»Ja«, erwiderte der Harfner, »ich habe gesehen, wie du ihn anstarrtest, als ich kam. Entsetzlicher Kerl, wie? Das ist Pryrates, ein Nabbanai-Priester und einer von Elias' Ratgebern. Die Leute sagen, er wäre ein hervorragender Alchimist, obwohl er dafür noch recht jung aussieht, findest du nicht? Ganz abgesehen davon, daß die Alchimie eigentlich keine passende Beschäftigung für einen Priester ist. Wenn man zudem etwas genauer hinhört, wird sogar geflüstert, daß er ein Zauberer sein soll, ein schwarzer Magier. Und wenn man noch schärfer aufpaßt…« An dieser Stelle wurde, als wollte Sangfugol zeigen, wie scharf man aufpassen müßte, seine Stimme hauchleise, und Simon mußte sich vorbeugen, um sie überhaupt zu hören; er schwankte leicht und merkte, daß er gerade einen dritten Weinbecher ausgetrunken hatte. »Wenn du ganz, ganz sorgfältig hinhörst…«, fuhr der Harfner fort, »wirst du von den Leuten erfahren, daß Pryrates' Mutter eine Hexe war und sein Vater … ein Dämon!« Sangfugol zupfte scharf an einer Lautensaite, und Simon sprang verblüfft zurück. »Aber, Simon, du darfst nicht alles glauben, was du hörst – schon gar nicht von betrunkenen Sängern!« Sangfugol beendete seine Worte mit einem Lachen und streckte die Hand aus. Simon starrte sie ratlos an.
»Für einen Händedruck, mein Freund«, grinste der Harfner. »Es hat mir Freude gemacht, mich mit dir zu unterhalten, aber ich fürchte, daß ich jetzt wieder an meinen Tisch muß, wo mich andere mit Ungeduld erwarten. Leb wohl!«
»Leb wohl.« Simon ergriff Sangfugols Hand und sah dann zu, wie sich der Harfner mit der Gewandtheit des erfahrenen Trunkenboldes durch den Saal schlängelte.
Als Sangfugol wieder Platz genommen hatte, fiel Simons Blick auf zwei Mägde, die gegenüber an der Korridorwand lehnten, sich mit den Schürzen Luft zufächelten und schwatzten. Eine davon war Hepzibah, die Neue, die andere Rebah, eines der Küchenmädchen.
In Simons Blut machte sich eine gewisse Wärme bemerkbar. Es mußte ganz einfach sein, jetzt durch den Saal zu gehen und die beiden anzusprechen. Hepzibah hatte so etwas, eine gewisse Keckheit um Augen und Mund, wenn sie lachte … Mit einem mehr als nur leichten Schwindelgefühl trat Simon in den Saal zurück. Das Stimmengewirr umbrandete ihn wie eine Flut.
Augenblick, Augenblick, dachte er, und plötzlich wurde ihm heiß und ängstlich, wie kann ich einfach zu ihnen hingehen und sie ansprechen – merken sie dann nicht, daß ich sie beobachtet habe! Werden sie nicht …
»Heda, fauler Bauerntölpel! Bring uns noch etwas von diesem Wein!«
Simon fuhr herum und erblickte Graf Fengbald, rot im Gesicht, der ihm vom Tisch des Königs mit dem Pokal zuwinkte. Die Mägde im Korridor schlenderten davon. Simon rannte nach der Nische zurück, um seine Kanne zu holen, und mußte sie aus einem Gewirr von Hunden befreien, die sich um ein Kotelett stritten. Ein Welpe, jung und mager, einen weißen Fleck im braunen Gesicht, winselte am Rand der Meute; mit den größeren Hunden konnte er es nicht aufnehmen. Simon fand auf einem verlassenen Stuhl einen Fetzen fettiger Kruste und warf ihn dem Hündchen zu, das mit dem Stummelschwanz wedelte und den Leckerbissen sofort verschlang. Dann heftete es sich an Simons Fersen, der die Kanne durch den Saal trug.
Fengbald und Guthwulf, der großmäulige Graf von Utanyeat, führten eine Art Wettkampf im Armdrücken durch. Sie hatten die Dolche gezogen und neben ihren Armen in die Tischplatte gerammt. Simon lief, so behende er konnte, um den Tisch herum, goß Wein in die Becher der johlenden Zuschauer und bemühte sich, nicht über den Hund zu stolpern, der ihm ständig zwischen den Füßen herumsprang. Der Kronprinz sah dem Wettkampf amüsiert zu, hatte jedoch seinen eigenen Pagen hinter sich, so daß Simon ihm nicht den Pokal füllte. Zuletzt schenkte er Pryrates ein und wich dabei dem Blick des Priesters aus. Doch konnte er nicht umhin, den seltsamen Geruch des Mannes zu bemerken, eine rätselhafte Mischung aus Metall und allzu süßen Gewürzen. Als er zurücktrat, sah er das Hündchen neben Pryrates im Stroh herumwühlen, irgendeinem heruntergefallenen Schatz auf der Spur.
»Komm her!« zischte Simon und klopfte auf sein Knie. Aber der Hund achtete nicht auf ihn. Er begann mit beiden Pfoten zu scharren und stieß mit dem Rücken an die rot umhüllte Wade des Priesters. »Komm doch!« flüsterte Simon wieder.
Pryrates wandte den Kopf, um nach unten zu blicken. Langsam drehte sich der glänzende Schädel auf dem langen Hals. Er hob den Fuß und ließ seinen schweren Stiefel auf das Rückgrat des Hundes niedersausen – eine geschwinde, knappe Bewegung, die nur einen Herzschlag dauerte. Knochen splitterten, ein ersticktes Aufjaulen: Der kleine Hund wand sich hilflos im Stroh, bis Pryrates ein zweites Mal den Absatz hob und ihm den Schädel zerschmetterte.
Der Priester schaute einen Augenblick teilnahmslos auf den Leichnam und hob dann den Blick. Seine Augen hefteten sich auf Simons entsetztes Gesicht. Das schwarze Starren – ohne Reue, ohne Betroffenheit – packte den Jungen und hielt ihn fest. Pryrates' flache, tote Augen flackerten noch einmal hinab zu dem Hündchen und wandten sich dann wieder Simon zu. Langsam breitete sich ein Grinsen über das Gesicht des Priesters.
Was kannst du dagegen tun, Junge? sagte das Lächeln. Und wen kümmert es schon?
Die Aufmerksamkeit des Priesters wurde wieder auf die Tafel gelenkt. Simon, befreit, ließ die Kanne fallen und stolperte hinaus, auf der Suche nach einem Ort, an dem er sich übergeben konnte.
Es war kurz vor Mitternacht. Gut und gern die Hälfte der Feiernden war zu Bett getaumelt oder dorthin getragen worden. Es schien äußerst fraglich, ob viele von ihnen morgen bei der Krönung überhaupt anwesend sein würden. Simon goß gerade den stark gewässerten Wein, den Peter Goldschüssel um diese Zeit ausschließlich noch kredenzen ließ, in den Becher eines betrunkenen Gastes, als Graf Fengbald, der als einziger von der Gesellschaft des zukünftigen Königs übriggeblieben war, vom Anger draußen in die Halle stolperte. Der junge Edelmann war zerzaust und seine Hosen standen halb offen, aber sein Gesicht zeigte ein seliges Lächeln.