»Kommt alle nach draußen!« rief er. »Kommt sofort hinaus! Kommt und seht!« Er schwankte wieder zur Tür. Wer noch dazu fähig war, stand auf und folgte ihm. Die Männer rempelten einander an und machten Witze. Manche sangen betrunken vor sich hin.
Fengbald stand auf dem Anger, den Kopf in den Nacken geworfen. Das schwarze Haar hing ihm aufgelöst über den Rücken seines befleckten Wamses, und er starrte zum Himmel hinauf. Er deutete nach oben; eines nach dem anderen hoben sich die Gesichter der anderen und folgten seinem Blick.
Quer über den Himmel war ein seltsames Bild gemalt. Es sah aus wie eine tiefe Wunde, die das Nachtschwarz mit Blut bespritzte – ein riesenhafter roter Komet, der sich von Norden nach Süden über den Himmel erstreckte.
»Ein Bartstern!« rief jemand. »Ein Omen!«
»Der alte König ist tot, tot, tot!« schrie Fengbald und fuchtelte mit dem Dolch in der Luft herum, als wollte er die Sterne herausfordern, herabzusteigen und mit ihm zu kämpfen. »Lang lebe der neue König!« rief er. »Ein neues Zeitalter hat begonnen!«
Jubelrufe erschallten, und einige der Anwesenden stampften mit den Füßen auf und jubelten. Andere begannen einen schwindligen, lachenden Tanz, bei dem sich Männer und Frauen an den Händen hielten und im Kreis herumwirbelten. Über ihnen glomm der rote Stern wie glühende Kohle.
Simon, der den Angeheiterten ins Freie nachgelaufen war, um den Grund für den Tumult zu erfahren, wollte gerade wieder in die Halle zurückgehen, da sah er Doktor Morgenes im Schatten der Zwingermauer stehen. Der alte Mann, gegen die kalte Luft in ein dickes Gewand gehüllt, bemerkte seinen Lehrling nicht – auch er starrte zu dem Bartstern hinauf, dem scharlachroten Schwerthieb quer über das Himmelsgewölbe. Aber im Gegensatz zu den anderen zeigte sein Gesicht weder Trunkenheit noch Freude. Es wirkte verängstigt und kalt und klein.
Er sieht aus, dachte Simon, wie ein Mann, der ganz allein in der Wildnis dem Hungerlied der Wölfe lauscht.
VII
Der Erobererstern
Frühling und Sommer im ersten Jahr der Regentschaft König Elias' waren zauberhaft, sonnenhell von Pomp und Schaugepränge. Ganz Osten Ard schien neugeboren. Die jungen Adligen waren zurückgekehrt und füllten wieder die so lange schweigenden Hallen des Hochhorstes, und der Unterschied war so groß, daß es schien, als hätten sie Farbe und Tageslicht an einen Ort gebracht, der vorher dunkel gewesen war. Wie in Johans Jugendtagen war die Burg voller Lachen und Trinken, voll von der Prahlerei glänzender Schlachtschwerter und Rüstungen. Nachts hörte man wieder Musik in den von Hecken umfriedeten Gärten, und die wunderschönen Damen des Hofes huschten in der warmen Dunkelheit zum Stelldichein (oder flohen davor) wie anmutig dahinschwebende Geister. Neues Leben erfüllte auch den Turnierplatz, der bunte Zelte trieb wie ein Blumenbeet Blüten. Für das einfache Volk sah es aus, als wäre jeder Tag Feiertag, denn das Feiern nahm kein Ende. König Elias und seine Freunde tobten sich aus wie Kinder, die bald ins Bett müssen und dies wissen. Ganz Erkynland schien zu lärmen und herumzutollen wie ein vom Sommer berauschter Hund.
Manche Dorfbewohner murmelten düster vor sich hin – es war schwer, die Frühjahrsaussaat zu bewältigen, wenn soviel Leichtfertigkeit in der Luft lag. Viele der älteren, sauertöpfischen Priester murrten über die Zunahme von Zuchtlosigkeit und Völlerei. Aber die meisten Menschen lachten über diese Unheilverkünder. Noch war Elias' Königtum frisch, und das Erkynland – und wie es schien, ganz Osten Ard – war nach einem langen Winter des Alters zu einer Jahreszeit unbekümmerter Jugend übergegangen. Was konnte daran unnatürlich sein?
Simon merkte, wie sich seine Finger verkrampften, während er mühsam die Buchstaben auf das graue Pergament kratzte. Morgenes stand am Fenster und hielt ein langes, gerilltes Glasrohrstück gegen das Licht, um es auf Schmutzspuren zu untersuchen.
Wenn er auch nur ein Wort darüber sagt, daß es nicht ordentlich saubergemacht wäre, verschwinde ich, dachte Simon. Der einzige Sonnenschein, den ich noch zu Gesicht bekomme, ist der, der sich in den Bechern spiegelt, die ich poliere.
Morgenes trat vom Fenster zurück und brachte das Stück Glasrohr zu dem Tisch hinüber, an dem Simon über seiner Schreibarbeit hockte. Als der alte Mann näherkam, bereitete sich Simon innerlich auf eine Strafpredigt vor und spürte, wie irgendwo zwischen seinen Schulterblättern eine Stelle vor Groll anzuschwellen begann.
»Vorzüglich gemacht, Simon!« sagte Morgenes statt dessen und legte die Pipette neben das Pergament. »Du pflegst die Sachen hier viel besser, als ich das selbst je könnte.« Der Doktor klopfte ihm leicht auf den Arm und beugte sich vor. »Und wie kommst du damit weiter?«
»Gräßlich«, hörte Simon sich sagen. Obwohl der Grollknoten noch da war, verabscheute er sich doch selbst wegen des kleinlichen Untertons in seiner Stimme. »Ich meine, ich werde das nie richtig lernen. Ich kann die Buchstaben einfach nicht sauber hinschreiben, ohne daß die Tinte kleckst, und außerdem kann ich das, was ich da schreibe, sowieso nicht lesen!« Als er das herausgebracht hatte, war ihm ein bißchen leichter, aber er kam sich immer noch dumm vor.
»Du machst dir Sorgen um nichts, Simon«, antwortete der Doktor und richtete sich auf. Er schien zerstreut; beim Sprechen huschten seine Augen im Zimmer hin und her. »Erstens machen alle Leute zu Anfang Kleckse, und einige tun es sogar ihr Leben lang – was noch lange nicht heißt, daß sie nichts Wichtiges zu sagen hätten. Und zweitens ist es ganz natürlich, daß du nicht lesen kannst, was du da schreibst, denn das Buch ist auf Nabbanai geschrieben, und du kannst kein Nabbanai.«
»Aber wieso muß ich Worte abschreiben, die ich nicht verstehe?« knurrte Simon. »Das ist doch albern.«
Morgenes warf Simon einen scharfen Blick zu. »Und weil ich es dir aufgetragen habe, bin ich wohl auch albern?«
»Nein, so habe ich das nicht gemeint … es ist nur, daß…«
»Gib dir keine Mühe mit Erklärungen.« Der Doktor zog sich einen Schemel heran und setzte sich neben Simon. Seine langen, gekrümmten Finger kratzten ziellos in dem Gerümpel auf der Tischplatte herum. »Ich lasse dich diese Worte abschreiben, weil man sich leichter auf Form und Gestalt der Buchstaben konzentrieren kann, wenn einen der Inhalt nicht ablenkt.«
»Hmmmpf.« Simon war nur teilweise befriedigt. »Könnt Ihr mir nicht wenigstens verraten, was das für ein Buch ist? Immer wieder schaue ich mir die Bilder an und kann es trotzdem nicht herausfinden.« Er blätterte zurück bis zu einer Illustration, die er in den letzten drei Tagen viele Male eingehend betrachtet hatte, dem grotesken Holzschnitt eines Mannes, der ein Geweih trug und große, starre Augen und schwarze Hände hatte. Zu seinen Füßen duckten sich scheu zurückweichende Gestalten; über dem Kopf des Gehörnten hing am tintenschwarzen Himmel eine flammende Sonne.
»Hier zum Beispiel.« Simon deutete auf das seltsame Bild. »Hier unten steht Sa Asdridan Condiquilles – was bedeutet das?«
»Es heißt«, entgegnete Morgenes, klappte den Deckel zu und nahm das Buch an sich, »›Der Stern des Eroberers‹ und gehört nicht zu den Dingen, über die du etwas zu wissen brauchst.« Er legte das Buch auf einen gefährlich schwankenden Stoß an der Wand.
»Aber ich bin Euer Lehrling!« protestierte Simon. »Wann werdet Ihr mich etwas lehren?«