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Endlich hatte Rachel der Drache seinen Arm losgelassen, und Simon zog mißmutig die Füße nach, während er der obersten der Kammerfrauen hinterher schlurfte wie ein Stock, der sich im Rocksaum verfangen hat. Er war erwischt worden, sein Käfer entkommen und der Nachmittag ruiniert.

»Was soll ich machen, Rachel«, murmelte er unwirsch, »in der Küche helfen?«

Rachel schnaubte verächtlich und watschelte weiter, ein Dachs mit Schürze. Voller Bedauern blickte sich Simon nach den schützenden Bäumen und Hecken des Gartens um. Seine Schritte mischten sich mit denen der Kammerfrau und hallten feierlich in dem langen Steinkorridor wider.

Die Kammerfrauen hatten Simon aufgezogen, aber da er ganz sicher nie eine der ihren werden würde – denn ganz abgesehen davon, daß er ein Junge war, konnte man ihm offensichtlich keine feineren Hausarbeiten anvertrauen –, hatte man sich gemeinschaftlich bemüht, eine passende Arbeit für ihn zu finden. In einem großen Haus, und der Hochhorst war zweifellos das größte Haus überhaupt, war für Leute, die nicht arbeiteten, kein Platz. Simon hatte eine Art Beschäftigung in den Burgküchen gefunden, aber selbst in dieser anspruchslosen Stellung war er wenig nützlich. Die anderen Küchenjungen lachten und pufften einander, wenn sie Simon betrachteten, der – bis zu den Ellenbogen im Wasser, die Augen in selbstvergessener Träumerei zugekniffen – gerade die Kunst des Vogelflugs erlernte oder Traumjungfrauen vor imaginären Untieren errettete, während sein Waschprügel quer durch die ganze Wanne davontrieb.

Der Legende nach war einst Herr Fluiren – ein Verwandter des berühmten Herrn Camaris von Nabban – in seiner Jugend auf den Hochhorst gekommen, um ein Ritter zu werden, und hatte in eben dieser Spülküche ein ganzes Jahr gearbeitet, so unsagbar demütig war er gewesen. Die Küchenleute hatten ihn geneckt, erzählte man, und ihn »Hübschhand« genannt, weil die schreckliche Schufterei das feine Weiß seiner Finger nicht beeinträchtigen wollte. Simon brauchte nur die eigenen rosagesottenen Pfoten mit den gesprungenen Nägeln anzuschauen, um zu wissen, daß er nicht der verwaiste Sohn eines großen Herrn war. Er war ein Küchenjunge und Eckenausfeger, und damit hatte es sein Bewenden.

König Johan hatte, wie jedermann wußte, in kaum höherem Alter den Roten Drachen erschlagen; Simon kämpfte mit Besen und Töpfen. Nicht, daß das einen großen Unterschied bedeutet hätte: Die heutige Welt war anders und ruhiger als in des Königs Jugend, was sie großenteils dem alten Herrscher selber verdankte. In den dunklen, endlosen Hallen des Hochhorstes wohnten keine Drachen mehr, zumindest keine feuerspeienden. Allerdings kam Rachel, wie Simon oft innerlich fluchte, mit ihrer sauren Miene und den gräßlichen Kneifefingern ihnen nahe genug.

Sie erreichten das Vorzimmer des Thronsaals und damit den Mittelpunkt der ungewohnten Betriebsamkeit. Die Kammerfrauen bewegten sich im Laufschritt und brummten von Wand zu Wand wie Fliegen in einer Flasche. Rachel blieb mit in die Hüfte gestemmten Fäusten stehen und musterte ihr Reich, und dem Lächeln nach, das ihren dünnen Mund zusammenzog, schien sie zufrieden.

Simon, einen Augenblick unbeachtet, kauerte an einer teppichgeschmückten Wand. Krummrückig starrte er aus den Augenwinkeln auf das neue Mädchen Hepzibah, das rundlich und lockenhaarig war und sich mit einem unverschämten Hüftschwung fortbewegte. Als sie mit einem überschwappenden Wassereimer an ihm vorbeikam, fing sie seinen Blick auf und lächelte breit und amüsiert zurück. Simon spürte, wie ihm knisterndes Feuer vom Hals bis in die Wangen stieg und drehte sich um, um an den ausgefransten Wandbehängen herumzuzupfen.

Rachel war der Blickaustausch nicht entgangen.

»Daß dich der Herr auspeitschen möge wie einen Esel, Junge! Hab ich dir nicht gesagt, du solltest dich an die Arbeit machen? Los damit!«

»Los damit? Was denn?« rief Simon und hörte tiefgekränkt, wie Hepzibahs silberhelles Lachen aus dem Gang herüberschwebte. In ohnmächtiger Wut zwickte er sich in den eigenen Arm. Es tat weh.

»Nimm den Besen hier und geh die Wohnung des Doktors ausfegen. Der Mann lebt wie ein Hamster, der alles in seinen Bau schleppt, und wer weiß, wohin der König noch gehen will, jetzt, da er wieder auf den Beinen ist!« Ihr Ton zeigte deutlich, daß Rachel die allgemeine Aufsässigkeit der Männer selbst durch eine königliche Stellung nicht gemindert fand.

»Die Wohnung von Doktor Morgenes?« fragte Simon. Zum ersten Mal, seit er im Garten erwischt worden war, besserte sich seine Laune. »Sofort!« Er schnappte sich den Besen und war schon fort.

Rachel schnaubte und drehte sich um, die fleckenlose Vollkommenheit des Vorzimmers zu prüfen. Sie fragte sich einen kurzen Augenblick, was wohl hinter der gewaltigen Tür des Thronsaales vorgehen mochte, verbannte dann jedoch diese Gedankenabschweifung so unbarmherzig, wie sie eine umhersummende Mücke erschlagen hätte. Mit Händeklatschen und stählernen Blicken trieb sie ihre Legionen zusammen und führte sie hinaus aus dem Vorraum und hinein in eine andere Schlacht gegen ihren Erzfeind, die Unordnung.

Dort in jener Halle hinter der Tür hingen in langen Reihen verstaubte Banner an den Wänden, ein verschossenes Bestiarium phantastischer Tiere: der sonnengoldene Hengst des Mehrdon-Stammes, Nabbans schimmernder Eisvogel-Helmschmuck, Eule und Ochse, Otter, Einhorn und Basilisk – Glied um Glied schweigender, schlafender Geschöpfe. Kein Luftzug bewegte diese fadenscheinigen Stoffbahnen; selbst die Spinnweben hingen leer und ungeflickt herunter.

Aber trotzdem hatte sich eine Kleinigkeit verändert im Thronsaaclass="underline" In diesem Raum voller Schatten gab es wieder etwas Lebendiges. Mit der dünnen Stimme eines kleinen Jungen oder eines sehr alten Mannes sang jemand ein leises Lied.

Am äußersten Ende der Halle hing zwischen den Standbildern der Hochkönige des Hochhorstes ein gewichtiger Wandteppich, ein Gobelin mit dem königlichen Wappen, Feuerdrachen und Baum. Die grimmigen Malachitstatuen, eine Sechser-Ehrenwache, flankierten einen riesigen, schweren Sitz, der ganz aus vergilbendem Elfenbein geschnitzt zu sein schien, mit knotigen, knöchrigen Armlehnen, die Rückenlehne überragt von einem ungeheuren, vielzahnigen Schlangenschädel mit Augen wie schattige Teiche.

Auf diesem Sessel und davor saßen die beiden Figuren. Die kleine, buntscheckig gekleidete, sang; es war ihre Stimme, die vom Fuß des Thrones aufstieg, zu schwach, um auch nur ein einziges Echo auszulösen. Zu ihr hinunter beugte sich eine abgemagerte Gestalt, die auf der Kante des Thrones hockte wie ein altes Raubtier – ein müder, gefesselter Raubvogel, angekettet an den stumpfen Knochen.

Der König, drei Jahre lang krank und geschwächt, war zurückgekehrt in seine staubige Halle. Er lauschte dem kleinen Mann, der zu seinen Füßen sang; die langen, fleckigen Hände des Königs umklammerten die Armlehnen seines großen, vergilbenden Thrones. Er war ein hochgewachsener Mann – einst sogar sehr hochgewachsen, jetzt aber gebeugt wie ein Mönch beim Gebet. Er trug ein Gewand von himmelblauer Farbe, das an ihm herunterhing, und war bärtig wie ein Usires-Prophet. Quer über seinem Schoß lag ein Schwert, das glänzte, als sei es frisch poliert; auf der Stirn saß die eiserne Krone, über und über mit seegrünen Smaragden und geheimnisvollen Opalen besetzt.

Das Männchen zu Füßen des Königs hielt einen langen, stillen Augenblick inne und begann dann ein neues Lied.

Kannst du Tropfen zählen, wenn kein Regen fällt? Kannst im Fluß du schwimmen, der kein Wasser hält? Kannst du Wolken fangen? Das kann nie geschehn … und der Wind rief ›Warte!‹ im Vorübergehn. Ja, der Wind rief ›Warte!‹ im Vorübergehn…

Als die Weise verklungen war, streckte der große alte Mann im blauen Gewand die Hand nach unten, und der Narr nahm sie. Keiner von beiden sagte ein Wort.

Johan Presbyter, Herr von Erkynland und Hochkönig von ganz Osten Ard, Geißel der Sithi und Verteidiger des wahren Glaubens, Schwinger des Schwertes Hellnagel, Verderben des Drachen Shurakai …