»Törichter Knabe! Was, glaubst du, tue ich die ganze Zeit? Ich versuche dir Lesen und Schreiben beizubringen, denn das ist das Wichtigste. Was willst du denn eigentlich lernen?«
»Magie!« erwiderte Simon, ohne zu zögern. Morgenes starrte ihn an.
»Und wie steht es mit Lesen?« erkundigte sich der Doktor mit unheilschwangerer Stimme.
Simon war verärgert. Wie gewöhnlich schien sich alles gegen ihn verschworen zu haben. »Ich weiß nicht«, meinte er. »Was ist denn so wichtig am Lesen und an den Buchstaben? Bücher sind nur Geschichten über irgend etwas. Warum sollte ich Bücher lesen wollen?«
Morgenes grinste, ein altes Wiesel, das ein Loch im Zaun zum Hühnerhof findet. »Ach, Junge, wie könnte ich dir böse sein … was für ein wundervoller, hinreißender, vollkommener Blödsinn!« Der Doktor gluckste anerkennend, tief in der Kehle.
»Was meint Ihr damit?« Simons Augenbrauen zogen sich zusammen; er runzelte die Stirn. »Warum ist es wundervoller Blödsinn?«
»Wundervoll, weil ich so eine wundervolle Antwort darauf habe«, lachte Morgenes. »Blödsinn, weil … nun, weil junge Menschen vermutlich blödsinnig auf die Welt kommen – so wie Schildkröten mit Panzern und Wespen mit Stacheln – es ist ihr Schutz gegen die Widrigkeiten des Lebens.«
»Wie bitte?« Simon war nun völlig ratlos.
»Bücher«, erläuterte Morgenes mit großer Geste und lehnte sich auf seinem wackligen Schemel zurück. »Bücher sind Magie. Das ist die ganz einfache Antwort. Und Bücher sind auch Fallen.«
»Magie?! Fallen?«
»Ja, Bücher sind eine Art Magie« – der Doktor nahm den Band zurück, den er gerade auf den Stapel gelegt hatte –, »weil sie Zeit und Raum sicherer umspannen als alle Zaubersprüche und Wundermittel. Was hat der-undder vor zweihundert Jahren über das-und-das gedacht? Kannst du durch die Zeiten zurückfliegen und ihn fragen? Nein – oder doch wahrscheinlich nicht.
Aber ah! Wenn er seine Gedanken aufgeschrieben hat, wenn es irgendwo eine Schriftrolle oder ein Buch mit seinen Abhandlungen zur Logik gibt … dann spricht er zu dir, über Jahrhunderte hinweg! Und wenn du ins ferne Nascadu oder ins verschollene Khandia reisen willst, brauchst du auch nur ein Buch aufzuschlagen…«
»Ja, ja, ich glaube, das verstehe ich alles.« Simon versuchte gar nicht erst, seine Enttäuschung zu verhehlen. Das war nicht das, was er mit dem Wort Magie gemeint hatte. »Und was ist mit den Fallen? Wieso Fallen?«
Morgenes beugte sich vor und wedelte mit dem ledergebundenen Folianten vor Simons Nase herum. »Alles Geschriebene ist eine Falle«, meinte er vergnügt, »und zwar von der besten Sorte. Siehst du, ein Buch ist die einzige Fallenart, die ihren Gefangenen, nämlich das Wissen, für immer lebendig hält. Je mehr Bücher man hat«, der Doktor machte eine weitausgreifende Geste quer durch das ganze Zimmer, »je mehr Fallen hat man, und desto größer ist die Chance, ein ganz besonderes, scheues, glänzendes Tier zu fangen, das sonst vielleicht stirbt, ohne daß jemand es zu Gesicht bekommen hat.« Morgenes schloß mit großem Nachdruck, indem er das Buch mit lautem Knall wieder auf den Stapel warf. Eine winzige Staubwolke stieg auf, deren Körnchen in den Lichtbändern herumwirbelten, die durch die Fenstergitter in den Raum fielen.
Einen Augenblick starrte Simon auf den schimmernden Staub und konzentrierte sich. Den Worten des Doktors zu folgen, glich dem Versuch, mit Fausthandschuhen Mäuse zu fangen.
»Aber wie steht es mit der wirklichen Magie?« fragte er endlich, und zwischen seinen Brauen stand eine hartnäckige Falte. »Magie – wie das, was Pryrates angeblich oben im Turm treibt?«
Sekundenlang verzerrte ein zorniger – oder war es ein ängstlicher? – Ausdruck die Züge des Doktors.
»Nein, Simon«, sagte er dann ruhig. »Komm mir nicht mit Pryrates. Das ist ein gefährlicher Mann und ein törichter dazu.«
Trotz seiner eigenen schrecklichen Erinnerungen an den roten Priester fand Simon die Eindringlichkeit im Blick des Doktors seltsam und ein wenig furchterregend. Er nahm allen Mut zusammen und fragte weiter: »Auch Ihr betreibt doch Magie, oder nicht? Warum ist dann Pryrates gefährlich?«
Morgenes stand plötzlich auf, und einen wilden Moment lang fürchtete Simon, der Alte werde ihn schlagen oder anschreien. Statt dessen ging Morgenes steif zum Fenster und starrte eine kleine Weile hinaus. Von Simons Platz aus sahen die dünnen Haare des Doktors aus wie ein stachliger Heiligenschein über seinen schmalen Schultern.
Morgenes drehte sich um und kam zurück. Sein Gesicht war ernst, schien von Zweifeln gequält. »Simon«, begann er, »wahrscheinlich wird es nichts nützen, wenn ich dir das sage, aber ich möchte, daß du dich von Pryrates fernhältst. Geh nicht zu ihm hin und rede nicht über ihn … außer mit mir natürlich.«
»Aber warum?« Im Gegensatz zu dem, was der Doktor vielleicht glaubte, hatte Simon für sich schon beschlossen, einen großen Bogen um den Alchimisten zu machen. Aber Morgenes war sonst nicht so gesprächig, und Simon wollte die Gelegenheit nicht ungenutzt lassen. »Was ist so schlecht an ihm?«
»Ist dir aufgefallen, daß die Menschen sich vor Pryrates fürchten? Daß sie sich beeilen, ihm aus dem Weg zu gehen, wenn er von seiner neuen Wohnung im Hjeldins-Turm herunterkommt? Es gibt einen Grund dafür. Man fürchtet ihn, weil ihm selbst die richtige Art von Furcht fehlt. Es steht in seinen Augen.«
Simon steckte den Federkiel in den Mund und fing an, nachdenklich darauf herumzukauen. Er nahm ihn wieder heraus, um zu fragen: »Die richtige Art von Furcht? Was heißt das?«
»Es gibt niemanden, der furchtlos ist, Simon, es sei denn, er wäre verrückt. Leute, die man furchtlos nennt, verbergen ihre Furcht meist nur geschickt, und das ist etwas ganz anderes. Der alte König Johan wußte, was Furcht ist, und ganz bestimmt wissen es seine beiden Söhne. Auch ich weiß es. Aber Pryrates … nun, die Leute sehen, daß er das, was wir fürchten oder respektieren, nicht achtet. Oft ist es diese Eigenschaft, die wir meinen, wenn wir jemanden als verrückt bezeichnen.«
Simon fand das alles faszinierend. Er wußte nicht genau, ob er wirklich glauben konnte, daß Johan der Priester oder Elias sich je gefürchtet hatten, aber das Thema Pryrates allein war schon fesselnd genug.
»Ist er denn verrückt, Doktor? Wie könnte das sein? Er ist ein Priester und einer der Ratgeber des Königs.« Aber Simon dachte an die Augen und das zahnige Lächeln und wußte, daß Morgenes recht hatte.
»Ich will es anders formulieren.« Morgenes wickelte eine Locke seines schneeweißen Bartes um den Finger. »Ich habe dir von Fallen erzählt, von der Suche nach Wissen, die wie die Jagd nach einem scheuen Tier ist. Nun, während ich und andere Wissenssucher hinaus zu unseren Fallen gehen, um nachzusehen, was für ein buntes Geschöpf wir zu fangen das Glück gehabt haben, reißt Pryrates nachts weit seine Tür auf und wartet, was hereinkommt.« Morgenes nahm Simon die Schreibfeder weg und hob dann den Ärmel seines Gewandes, um etwas von der Tinte abzutupfen, die Simons Wange zierte. »Das Problem bei Pryrates' Methode ist«, fuhr er fort, »daß man das Tier, das zu Besuch kommt, vielleicht nicht haben will – und daß es dann schwer ist – sehr, sehr schwer –, die Tür wieder zuzumachen.«
»Ha!« knurrte Isgrimnur. »Berührt, Mann, berührt! Gebt es zu!«
»Nur der Hauch eines Flüsterns über meiner Weste«, erklärte Josua und hob mit geheucheltem Erstaunen eine Braue. »Ich sehe mit Bedauern, daß Euch die Hinfälligkeit zu solchen Verzweiflungstaten treibt…« Mitten im Satz, ohne den Tonfall zu ändern, stieß er zu. Isgrimnur parierte klappernd die hölzerne Klinge mit dem eigenen Schwertgriff und lenkte den Stoß seitlich ab.
»Hinfälligkeit?« zischte der Ältere durch gefletschte Zähne. »Ich werde Euch Hinfälligkeit geben, daß Ihr heulend zu Eurer Amme zurückrennt!«
Trotz seiner Jahre und seines Umfangs immer noch flink, drängte der Herzog von Elvritshalla vorwärts. Er schwang das Holzschwert in großen Bögen, wobei ihm sein beidhändiger Griff gute Dienste leistete. Josua sprang zurück und parierte. Das dünne Haar hing ihm in schweißfeuchten Spitzen in die Stirn. Endlich erspähte er eine Öffnung. Als Isgrimnur das Übungsschwert erneut in pfeifendem Schwung auf ihn zusausen ließ, duckte sich der Prinz, leitete mit Hilfe der eigenen Klinge den Hieb des Herzogs von seinem Kopf ab, hakte dann einen Fuß hinter Isgrimnurs Absatz und zog. Der Herzog krachte rückwärts zu Boden wie ein gefällter Baum. Gleich darauf ließ sich auch Josua neben ihn ins Gras sinken; mit seiner einen Hand nestelte er geschickt die dicke, gepolsterte Weste auf und rollte sich auf den Rücken.