»Sie haben die Schafe und Kühe aus der Stadt auf dem Hochhorst im Burggraben getränkt«, fuhr Simon fort.
»Haben sie das?«
»Ja. Man kann am Rand die braunen Ringe sehen, die anzeigen, wie der Wasserspiegel gesunken ist. Es gibt Stellen, an denen man stehen kann und wo einem das Wasser nicht einmal bis zu den Knien geht!«
»Und die hast du zweifellos alle entdeckt.«
»Ich glaube schon«, erwiderte Simon stolz. »Und letztes Jahr um diese Zeit war alles gefroren. Stell dir doch vor!«
Judith sah vom Glasieren der Brote auf und betrachtete Simon mit ihren freundlichen blaßblauen Augen. »Ich weiß, daß es aufregend ist, wenn so etwas geschieht«, meinte sie, »aber vergiß nicht, Bürschchen, daß wir das Wasser brauchen. Wenn wir weder Regen noch Schnee bekommen, gibt es auch keine schönen Mahlzeiten mehr. Du weißt ja, daß man aus dem Kynslagh nicht trinken kann.« Der Kynslagh und auch der Gleniwent, der ihn speiste, waren salzig wie das Meer.
»Natürlich weiß ich das«, erwiderte Simon. »Sicher wird es auch bald schneien – oder regnen, weil es so warm ist. Es wird nur einen sehr merkwürdigen Mittwinter geben.«
Judith wollte gerade noch etwas bemerken, hielt jedoch inne und blickte über Simons Schulter nach der Tür.
»Ja, Mädchen, was gibt's?« fragte sie. Simon drehte sich um und sah wenige Fuß hinter sich ein wohlbekanntes, lockenhaariges Gesicht – Hepzibah.
»Rachel hat mich geschickt, um Simon zu holen, Frau Judith«, erklärte sie und machte einen nachlässigen halben Knicks. »Sie braucht ihn, weil er etwas von einem hohen Regal herunterholen soll.«
»Nun, Herzchen, da brauchst du nicht zu fragen. Er sitzt hier nur herum und betet mein Backwerk an; nicht, daß er helfen würde oder sonst etwas täte.« Sie scheuchte Simon mit einer Handbewegung hinaus, die er nicht sah, weil er gerade Hepzibahs enggeschnürte Schürze und ihr welliges Haar bewunderte, das ihr Häubchen weder bändigen noch bedecken konnte. »Lysia erbarm sich, Junge; mach, daß du wegkommst!« Judith lehnte sich über den Tisch und stupste Simon mit dem Pinselstiel.
Hepzibah hatte bereits kehrtgemacht und war schon fast zur Tür hinaus. Als Simon hastig von seinem Schemel sprang, um ihr nachzulaufen, legte ihm die Küchenmeisterin eine warme Hand auf den Arm.
»Hier«, sagte sie, »das hier scheine ich verdorben zu haben – schau nur, es ist ganz schief.« Sie reichte ihm einen krummen Brotlaib, gedreht wie ein Stück Seil und nach Zucker duftend.
»Danke!« erwiderte Simon, nahm den Laib, riß ein Stück ab und stopfte es sich in den Mund, während er hastig zur Tür rannte. »Es ist gut!«
»Natürlich ist es das!« rief Judith ihm nach. »Und wenn du es Rachel erzählst, ziehe ich dir das Fell über die Ohren!« Aber die letzten Worte trafen nur noch einen leeren Türrahmen.
Simon brauchte nur wenige Schritte, um Hepzibah einzuholen, die sich nicht sonderlich schnell bewegte.
Hat sie auf mich gewartet? überlegte er und fühlte sich eigenartig atemlos, kam dann aber zu dem Entschluß, daß jeder, den ein Auftrag aus Rachels Klauen befreite, höchstwahrscheinlich trödeln würde, so gut er könnte.
»Möchtest du … möchtest du etwas davon haben?« fragte er und schnappte leicht nach Luft. Die kleine Magd nahm ein Stück von dem süßen Brot und schnupperte daran, bevor sie es in den Mund steckte.
»Oh, das schmeckt gut, wirklich«, erklärte sie dann und schenkte Simon ein strahlendes Lächeln, das ihre Augenwinkel mit Lachfältchen umrahmte. »Gib mir noch ein Stück, ja?« Er tat es.
Sie verließen die Halle und traten in den Hof. Hepzibah kreuzte die Arme, als wollte sie sich selbst umarmen. »Uh, ist das kalt«, sagte sie. Eigentlich war es ziemlich warm – wenn man berücksichtigte, daß man sich im Monat Decander befand, geradezu glühend heiß –, aber nun, wo Hepzibah es erwähnte, war Simon überzeugt, er spüre eine kalte Brise.
»Ja, wirklich kalt, in der Tat«, bemerkte er und verstummte dann aufs neue.
Als sie um die Ecke der Inneren Burg bogen, in der die königlichen Wohnungen lagen, deutete Hepzibah auf ein kleines Fenster gerade unterhalb des oberen Türmchens. »Siehst du das?« fragte sie. »Da habe ich neulich erst die Prinzessin stehen sehen. Sie hat sich das Haar gekämmt … meine Güte, hat sie nicht hübsches Haar?«
Eine vage Erinnerung an Gold, in dem sich die Nachmittagssonne fing, stieg in Simon auf, aber er ließ sich nicht ablenken.
»Ach, ich finde, du hast viel schöneres Haar«, erklärte er und wandte sich dann ab, um einen der Wachttürme in der Mauer des Mittleren Zwingers zu betrachten. Ein verräterisches Erröten stahl sich in seine Wangen.
»Meinst du wirklich?« lachte Hepzibah. »Ich finde, es ist ein fürchterliches Gestrüpp. Prinzessin Miriamel hat Damen, die es ihr bürsten. Sarrah – du weißt, das blonde Mädchen – kennt eine davon. Sarrah sagt, die Dame hätte ihr erzählt, die Prinzessin wäre manchmal ganz traurig, und sie wollte zurück nach Meremund, wo sie aufgewachsen ist.«
Simon schaute mit großem Interesse auf Hepzibahs Nacken, der mit lockigen braunen Haarzweiglein bekränzt war, die unter ihrer Haube hervorlugten. »Hmmm«, antwortete er.
»Soll ich dir noch etwas sagen?« fragte Hepzibah und wandte sich vom Turm ab. »Warum starrst du denn so?« schalt sie, aber ihre Augen waren fröhlich. »Hör auf damit, ich habe dir doch gesagt, daß mein Haar ganz durcheinander ist. Soll ich dir noch etwas über die Prinzessin erzählen?«
»Was?«
»Ihr Vater will, daß sie Graf Fengbald heiratet, aber sie mag nicht. Der König ist sehr böse auf sie, und Graf Fengbald droht, den Hof zu verlassen und wieder nach Falshire zu gehen, obwohl man sich nicht vorstellen kann, warum. Lofsunu sagt, er würde nie gehen, weil in seiner Grafschaft niemand genug Geld hat, um seine Pferde und Kleider und alles andere richtig zu würdigen.«
»Wer ist Lofsunu?« wollte Simon wissen.
»Oh.« Hepzibah machte ein gelangweiltes Gesicht. »Das ist ein Soldat, den ich kenne. Er gehört zu Graf Breyugars Gefolgschaft. Sieht sehr gut aus.«
Der letzte Rest des Ädonbrotes verwandelte sich in Simons Mund in feuchte Asche. »Ein Soldat?« fragte er leise. »Ist er … ein Verwandter von dir?«
Hepzibah kicherte, ein Geräusch, das Simon langsam ein wenig auf die Nerven zu gehen begann. »Ein Verwandter! Barmherzige Rhiap, nein, das ganz bestimmt nicht! So wie er mir die ganze Zeit nachläuft!« Sie kicherte wieder; es gefiel Simon noch viel weniger. »Vielleicht hast du ihn schon gesehen«, fuhr sie fort, »er steht Wache in der Ostkaserne. Breite Schultern und Bart.« Sie zeichnete einen Mann in die Luft, in dessen Schatten Simon an einem Sommertag bequem hätte sitzen können.
Simons Gefühle kämpften mit seiner vernünftigeren Natur. Die Gefühle siegten. »Soldaten sind dumm«, knurrte er.
»Sind sie nicht!« versetzte Hepzibah. »Nimm das zurück! Lofsunu ist ein feiner Mann. Eines Tages wird er mich heiraten!«
»Ein feines Paar werdet ihr abgeben«, fauchte Simon. Dann tat es ihm leid. »Ich hoffe, ihr werdet glücklich«, schloß er und wünschte sich nur, die Gründe für seinen Groll wären nicht so kristallklar.
»Das werden wir bestimmt«, meinte die besänftigte Hepzibah. Sie betrachtete eindringlich ein Paar Burgwächter, die über ihnen die Zinnen entlangwanderten, lange Hellebarden auf den Schultern. »Irgendwann wird Lofsunu Unteroffizier, dann werden wir in Erchester ein eigenes Haus haben. Wir werden so glücklich sein wie … wie man nur sein kann. Jedenfalls glücklicher als die arme Prinzessin.«
Simon zog eine Grimasse, hob einen runden Stein auf und ließ ihn die Zwingermauer hinunterklappern.
Doktor Morgenes, der auf den Zinnen auf und ab lief, schaute hinunter und erblickte Simon, der mit einer der jungen Dienstmägde unten vorbeiging. Eine trockene Brise wehte ihm die Kapuze vom Kopf. Der alte Mann lächelte und wünschte Simon innerlich viel Glück – der Junge schien es nötig zu haben. Seine ungeschickte Haltung und die Anfälle von Trotz ließen ihn mehr wie ein Kind als wie einen jungen Mann erscheinen, aber er hatte bereits die Höhe eines Mannes und ließ erkennen, daß er sie eines Tages auch ausfüllen würde. Simon stand an einer Grenze, ein Bein auf jeder Seite, und sogar der Doktor, dessen Alter sich jetzt niemand im Schloß mehr vorstellen konnte, erinnerte sich, was das für ein Zustand war.