»Wenn es nicht bald regnet«, sagte Jeremias und musterte stirnrunzelnd eine Meute kreischender Kinder, die an den farblosen Kleidern einer ebenso farblos aussehenden Frau herumzerrten, »muß die Erkyngarde sie von hier vertreiben. Wir haben auf die Dauer nicht genug Wasser für sie. Sie sollen fortgehen und sich selber ihre Brunnen graben.«
»Aber wo…«, wollte Simon fragen, brach aber jäh ab und riß weit die Augen auf. Weit hinten auf einem der Trampelpfade durch die Behelfsstadt hatte er ein Gesicht entdeckt, das ihm bekannt vorkam. Nur sekundenlang war es aus der Menge aufgetaucht und sofort wieder verschwunden, aber er war sicher, daß es dem Jungen gehörte, den er beim Spionieren erwischt und der ihn dem Zorn des Küsters Barnabas ausgeliefert hatte.
»Da ist der, von dem ich dir erzählt habe!« zischte er aufgeregt. Jeremias blickte ihn verständnislos an. »Du weißt doch, Mal – Malachias! Dem schulde ich noch etwas!« Simon näherte sich dem Menschenknäuel, in dem er, davon war er überzeugt, das Gesicht des Spitzels mit den scharfen Zügen erblickt hatte. Es waren zumeist Frauen und kleine Kinder, aber auch ein paar ältere Männer standen dazwischen, krumm und verwittert wie alte Bäume. Sie umringten eine junge Frau, die vor der Öffnung eines halbverfallenen Schuppens, der hinten unmittelbar an den Stein der großen Außenmauer stieß, am Boden kauerte. Auf dem Schoß hielt sie den blassen Körper eines winzigen Kindes und wiegte ihn weinend hin und her. Malachias war nirgends zu sehen.
Simon betrachtete die gleichgültigen, ausgemergelten Gesichter der Umstehenden und sah dann auf die weinende Frau.
»Ist das Kind krank?« fragte er den Mann neben sich. »Ich bin Doktor Morgenes' Lehrling. Soll ich ihn holen gehen?«
Eine alte Frau hob das Gesicht. Ihre Augen, die in einem sich vielfach kreuzenden Netz schmutziger Runzeln saßen, waren hart und dunkel wie die eines Vogels.
»Laß uns zufrieden, Burgmann«, sagte sie und spuckte in den Staub. »Königsmann. Laß uns nur zufrieden!«
»Aber ich möchte euch helfen…«, begann Simon. Eine kräftige Hand packte ihn am Ellenbogen.
»Tu, was sie sagt, Junge.« Es war ein sehniger alter Mann mit verfilztern Bart. Seine Miene war nicht unfreundlich, als er Simon aus dem Kreis zog. »Du kannst hier nicht helfen, und die Leute sind mächtig wütend. Das Kind ist tot. Mach, daß du fortkommst.« Er gab Simon einen sanften, aber festen Stoß.
Als Simon wiederkam, stand Jeremias noch am selben Fleck. Die Lagerfeuer, die sie auf allen Seiten umgaben, zeigten in ihrem flackernden Licht seine sorgenvolle Miene.
»Mach nicht so was, Simon«, jammerte er. »Es gefällt mir nicht hier draußen, und schon gar nicht nach Sonnenuntergang.«
»Sie haben mich angesehen, als haßten sie mich«, murmelte Simon verwirrt, aber Jeremias eilte bereits voran.
Keine einzige Fackel brannte, und doch herrschte in der Halle ein seltsames, rauchiges Licht. Nirgends auf dem Hochhorst konnte er eine lebende Seele entdecken, aber durch alle Gänge hallte das Geräusch von Stimmen, die sangen und lachten.
Simon ging von einem Zimmer ins andere, zog Vorhänge beiseite, öffnete die Türen von Anrichteräumen, konnte aber niemanden finden. Fast war es, als verhöhnten ihn die Stimmen bei seiner Suche – erst schwollen sie an, dann wurden sie wieder leiser, in hundert verschiedenen Sprachen, von denen er keine einzige kannte, psalmodierend und singend.
Endlich blieb er vor der Tür des Thronsaales stehen. Die Stimmen waren lauter denn je und schienen allesamt aus dem großen Raum zu rufen. Er griff mit der Hand nach unten; die Tür war nicht verschlossen. Als er sie aufstieß, verstummten die Stimmen, als hätte das Knarren der Angeln sie vor Schreck zum Schweigen gebracht. Das dunstige Licht quoll heraus und an ihm vorbei wie schimmernder Rauch. Er trat ein.
Mitten im Raum stand der vergilbte Thron, der Thron aus Drachenbein. Um ihn herum tanzte ein Kreis von Gestalten, die sich an den Händen hielten. Sie bewegten sich so langsam, als wateten sie durch tiefes Wasser. Mehrere erkannte er: Judith, Rachel, Jakob den Wachszieher und andere Burgleute; die Gesichter in wilder Fröhlichkeit verzerrt, verbeugten sie sich voreinander und machten Bocksprünge. Zwischen ihnen drehten sich vornehmere Tänzer: König Elias, Guthwulf von Utanyeat, Gwythinn von Hernystir; wie die Burgleute kreisten auch sie so langsam und bedächtig wie altersloses Eis, das Gebirge zu Staub zermahlt. Hier und da ragten hohe Gestalten aus dem schweigenden Ring, schwarzglänzend wie Käfer – die Malachitkönige waren von ihren Sockeln gestiegen, um dem Fest beizuwohnen. Und in der Mitte erhob sich die Masse des ungeheuren Thrones, ein schädelgekrönter Berg aus stumpfem Elfenbein, der voll von Lebenskraft zu sein schien, aufgeladen mit uralter Energie, die den Kreis der Tänzer an straffen, unsichtbaren Zügeln hielt.
Im Thronsaal war es still, bis auf den dünnen Faden einer in der Luft zitternden Melodie: das Cansim Falis, die Hymne an die Freude. Die Töne kamen langgezogen und erweckten Unbehagen, so als seien die unsichtbaren Hände, die sie zupften, nicht für irdische Instrumente geschaffen.
Simon fühlte sich in den grausigen Tanz hineingezogen wie in einen Strudel; ohne die Füße zu heben, bewegte er sich doch unausweichlich weiter nach innen. Mit einer langsamen Drehbewegung, als lösten sich ineinandergeschlungene Grashalme, wandten sich die Köpfe der Tänzer ihm zu.
Inmitten des Ringes, auf dem Drachenthron selbst, gerann eine Dunkelheit eine Dunkelheit aus vielen rastlosen kleinen Teilchen wie ein Fliegenschwarm –, und oben an der Spitze dieser schwärmenden, wogenden Dunkelheit begannen zwei glühende Scharlachfunken aufzuleuchten, als habe ein plötzlicher Windstoß sie angefacht.
Die Tänzer starrten ihn jetzt an, wenn sie vorüberschwammen, bildeten mit den Lippen wortlos seinen Namen: Simon, Simon, Simon … Auf der anderen Seite des Ringes, hinter der sich windenden Finsternis auf dem Thron, tat sich eine Lücke auf: Zwei verschränkte Hände lösten sich voneinander, als zerrisse ein morscher Lappen.
Als sich die Öffnung auf ihn zudrehte, streckte sich eine der Hände in fischiger Wellenbewegung nach ihm aus. Sie gehörte Rachel, und als er näher kam, winkte sie ihn zu sich. Statt des üblichen mißtrauischen Gesichtsausdruckes stand verzweifelte Fröhlichkeit in Rachels starren Zügen. Sie griff nach ihm; auf der anderen Seite hielt der dicke Jeremias die Lücke offen, ein stumpfes Lächeln im blassen Gesicht. »Komm her, Junge«, sagte Rachel, oder wenigstens waren es ihre Lippen, die sich bewegten; die Stimme, sanft und heiser, gehörte einem Mann. »Komm, kannst du den Platz nicht fühlen, den wir für dich freigelassen haben? Einen ganz besonderen Platz?«
Die tastende Hand packte ihn am Kragen und begann ihn in den Kreis des Tanzes zu ziehen. Er wehrte sich, schlug nach den feuchtkalten Fingern, aber seine Arme hatten keine Kraft. Rachels und Jeremias' Lippen öffneten sich in breitem Grinsen. Die Stimme wurde noch tiefer.
»Junge! Hörst du mich nicht? Komm schon, Junge!«
»Nein!« Endlich war der Aufschrei heraus, dem Gefängnis von Simons zusammengeschnürter Kehle entsprungen. »Nein! Ich will nicht. Nein!«
»Oh, bei Frayas Strumpfbändern, Junge, wach auf! Du weckst ja alle anderen.« Wieder schüttelte ihn die Hand grob, und plötzlich schimmerte Licht. Simon richtete sich auf, wollte schreien und fiel mit einem Hustenanfall wieder zurück. Über ihm lehnte eine dunkle Gestalt, von einer Öllampe scharf umrissen.