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Auch Isgrimnur schüttelte – voller Ungeduld – den Kopf, und sein graumelierter Bart bebte. »Nein, er ist fort. Muß kurz nach Mitternacht aufgebrochen sein, soweit ich das feststellen konnte – jedenfalls hat das der Kerl von der Erkyngarde gesagt, den ich in seinem leeren Zimmer fand, als ich zu unserer Verabredung kam. Josua hatte mich gebeten, so spät zu kommen, obwohl ich mich lieber schlafen gelegt hätte, aber er sagte, es gäbe etwas, das nicht warten könnte. Klingt das nach einem Mann, der abreisen würde, ohne mir auch nur eine Nachricht zu hinterlassen?«

»Wer weiß?« meinte Strupp, das runzlige Gesicht bedrückt und nachdenklich. »Vielleicht war das der Grund, weshalb er Euch sprechen wollte – weil er heimlich fortwollte.«

»Warum hat er dann nicht gewartet, bis ich da war? Die Sache gefällt mir nicht.« Isgrimnur hockte sich nieder und stocherte mit einem herumliegenden Stock in den Kohlen. »In den Gängen dieses Hauses weht heute nacht eine seltsame Luft.«

»Josua handelt oft merkwürdig«, erklärte Strupp ruhig. »Er ist launenhaft – bei Gott, was hat er für Launen! Wahrscheinlich ist er unterwegs, um im Mondschein Eulen zu jagen, oder huldigt sonst einem vertrackten Zeitvertreib. Habt keine Sorge.«

Nach einem Augenblick des Schweigens stieß Isgrimnur lang den Atem aus. »Ach, bestimmt hast du recht«, meinte er, und sein Ton klang beinahe überzeugend. »Selbst wenn Elias und er einander offen den Krieg erklärt hätten, könnte hier im Haus seines Vaters, vor Gott und dem Hof, doch nichts geschehen.«

»Nichts, als daß Ihr mir mitten in der Nacht den Kopf einschlagen wollt. Gott scheint heute abend etwas unachtsam zu sein.« Strupp grinste sein Runzelgrinsen.

Während die beiden Männer ihre Unterhaltung mit gedämpfter Stimme vor den matten Kohlen fortsetzten, stahl Simon sich leise zurück ins Bett. Er lag noch lange wach und starrte, in seine Decke gewickelt, ins Dunkel; als aber der Hahn unten im Hof endlich das erste aufsteigende Sonnenglühen bemerkte, war Simon längst wieder eingeschlafen.

»Und nun Vergeßt nur nicht«, warnte Morgenes und wischte sich mit einem leuchtendblauen Tuch den Schweiß von der Stirn, »daß ihr nichts eßt, bevor ihr es zu mir gebracht und mich danach gefragt habt. Vor allem nichts mit roten Flecken. Verstanden? Viele von den Sachen, die ihr mir zusammensuchen solltet, sind reinstes Gift. Vermeidet also jede Dummheit, sofern das überhaupt möglich ist. Simon, du bist der Anführer! Ich mache dich für die Sicherheit der anderen verantwortlich.«

Die anderen, das waren Jeremias der Wachszieherjunge und Isaak, ein junger Page aus den Gemächern des oberen Stockwerks. Der Doktor hatte sich diesen heißen Feyevernachmittag ausgewählt, um eine Pilz- und Kräuter-Suchaktion im Kynswald zu veranstalten, einem Wäldchen von weniger als einem halben Quadratkilometer Ausdehnung, das sich unter der Westmauer des Hochhorstes an das Steilufer des Kynslaghs duckte. Durch die Dürre waren Morgenes' Vorräte an wichtigen Grundstoffen besorgniserregend zusammengeschrumpft, und der Kynswald, der so nah am großen See lag, schien ein geeigneter Ort zu sein, um die feuchtigkeitsliebenden Schätze des Doktors aufzuspüren.

Während sie durch den Wald ausschwärmten, blieb Jeremias zurück und wartete, bis das knirschende Geräusch von Morgenes' Schritten sich im Knistern des braunen Unterholzes verloren hatte.

»Hast du ihn schon gefragt?« Jeremias' Kleidung war bereits schweißnaß, so daß sie an ihm klebte.

»Nein.« Simon hatte sich niedergebückt, um einer Preßpatrouille von Ameisen zuzusehen, die im Gänsemarsch den Stamm einer Vestivegg-Kiefer hinaufeilten. »Ich werde es heute tun.«

»Und wenn er nein sagt?« Jeremias beäugte die Prozession mit einigem Widerwillen. »Was machen wir dann?«

»Er wird nicht nein sagen!« Simon stand auf. »Und wenn … nun, dann lasse ich mir eben etwas einfallen.«

»Was flüstert ihr denn da?« Der kleine Isaak war auf die Lichtung zurückgekehrt. »Es gehört sich nicht, Geheimnisse zu haben.« Obwohl er drei oder vier Jahre jünger war als Simon und Jeremias, hatte der junge Page sich bereits eine ›vornehme‹ Redeweise angewöhnt. Simon warf ihm einen finsteren Blick zu.

»Das geht dich gar nichts an.«

»Wir haben uns den Baum hier angeschaut«, erläuterte Jeremias, der sich sofort schuldig fühlte.

»Ich hätte gedacht«, bemerkte Isaak listig, »daß es hier genügend Bäume gibt, die man ansehen kann, ohne heimlich zurückzubleiben und sich Geheimnisse zu erzählen.«

»Oh, aber dieser hier«, begann Jeremias, »dieser hier ist –«

»Vergiß den blöden Baum«, unterbrach ihn Simon angewidert. »Gehen wir! Morgenes ist weit voraus und wird uns einiges erzählen, wenn er mehr sammelt als wir.« Er duckte sich unter einem Ast und watete in das knöchelhohe Gestrüpp des Waldbodens hinein.

Es war harte Arbeit. Als sie nach gut anderthalb Stunden eine Pause machten, um einen Schluck Wasser zu trinken und im Schatten auszuruhen, waren die drei Jungen bis zu den Ellenbogen und Knien mit feinem, rotem Staub bedeckt. Jeder trug ein Bündel mit seinen in ein Tuch gewickelten Funden: Simons war am größten, die Bündel von Isaak und Jeremias waren von bescheidenerem Umfang. Sie fanden eine große Föhre, die ihnen als gemeinschaftliche Rückenlehne diente. Die staubigen Beine hatten sie ringsum ausgestreckt wie die Speichen eines Rades. Simon warf einen Stein über die Lichtung. Er fiel in einen Haufen abgebrochener Äste und ließ die welken Blätter zittern.

»Warum ist es bloß so heiß?« stöhnte Jeremias und wischte sich die Stirn. »Und warum ist mein Tuch so voll von albernen Pilzen, daß ich mir den Schweiß mit den Händen abstreifen muß?« Er hielt die schlüpfrigen, feuchten Handflächen hoch.

»Es ist heiß, weil es heiß ist«, knurrte Simon. »Weil kein Regen fällt. Mehr nicht.«

Eine längere Weile verging ohne Worte. Selbst die Insekten und Vögel schienen verschwunden zu sein, sich an dunkle Orte zurückgezogen zu haben, um dort schweigend den trockenen, stillen Nachmittag zu verschlafen.

»Eigentlich müßten wir noch froh sein, daß wir nicht in Meremund sind«, bemerkte schließlich Jeremias. »Sie sagen, dort wären tausend Menschen an der Pest gestorben.«

»Tausend?« sagte Isaak verächtlich. Die Hitze hatte sein schmales, blasses Gesicht stark gerötet. »Viele Tausende! Die ganze Residenz spricht von nichts anderem. Mein Herr läuft mit einem in Weihwasser getauchten Tuch vor dem Gesicht auf dem Hochhorst herum, und dabei ist die Pest nicht einmal auf hundert Meilen an uns herangekommen.«

»Weiß dein Herr, was in Meremund vorgeht?« fragte Simon interessiert – Isaak war doch zu etwas nütze. »Spricht er denn mit dir darüber?«

»Andauernd.« Der kleine Page genoß die Aufmerksamkeit des Älteren. »Der Bruder seiner Frau ist der Bürgermeister. Sie waren unter den ersten, die vor der Pest geflohen sind. Er hat viel Neues von ihnen erfahren.«

»Elias hat Guthwulf von Utanyeat zur Königlichen Hand ernannt«, meinte Simon. Jeremias stöhnte und rutschte am Baumstamm herunter, um sich der Länge nach auf dem fichtennadelbedeckten Boden auszustrecken.

»Das stimmt«, erwiderte Isaak und kratzte mit einem langen Zweig im Staub. »Und er hat die Pest dort festgehalten. Sie hat sich nicht ausgebreitet.«

»Woher kommt sie, diese Seuche?« erkundigte sich Simon. »Gibt es Leute in der Residenz, die das wissen?« Er kam sich töricht vor, einem Kind, das soviel jünger war als er selbst, Fragen zu stellen, aber Isaak horchte auf den Klatsch im oberen Stockwerk und war nicht abgeneigt, ihn anderen weiterzuerzählen.

»Niemand weiß es genau. Manche Leute sagen, neidische Hernystir-Kaufleute aus Abaingeat jenseits des Flusses hätten die Brunnen vergiftet. Aber in Abaingeat sind auch viele Leute gestorben.« Isaak sagte es mit einem gewissen Ausdruck der Befriedigung – schließlich waren die Hernystiri keine Ädoniter, sondern Heiden, ganz gleich, was für ein hochrangiger Verbündeter Lluths Haus unter dem Schutz des Hochkönigs auch gewesen sein mochte. »Andere behaupten, die Dürre hätte vor lauter Trockenheit die Erde aufplatzen lassen, und es seien giftige Dünste aus dem Boden gedrungen. Aber was es auch sein mag, mein Herr sagt, daß es keinen verschont, weder reiche Leute noch Priester oder Bauern. Zuerst fühlt man sich heiß und fiebrig«, – hier ächzte der flach auf dem Rücken liegende Jeremias und betupfte sich die Stirn –, »dann bekommt man überall Blasen, als hätte man auf heißen Kohlen gelegen. Schließlich fangen die Blasen an zu nässen…« Er unterstrich das letzte Wort mit einer kindischen Grimasse. Feines blondes Haar hing ihm ins gerötete Gesicht. »Und danach stirbt man. Unter starken Schmerzen.«