Der Wald ringsum atmete Hitze. Stumm saßen sie da.
»Jakob, mein Meister«, nahm Jeremias endlich den Faden wieder auf, »fürchtet, daß die Pest auch zum Hochhorst kommt, weil so viele schmutzige Bauern unter den Mauern hausen.« Der Kynswald tat einen weiteren, langsamen Atemzug. »Ruben der Bär hat meinem Meister erzählt, er habe von einem Bettelmönch erfahren, daß Guthwulf in Meremund äußerst hart vorgegangen sei.«
»Äußerst hart?« fragte Simon mit geschlossenen Augen. »Was soll das heißen?«
»Der Mönch hat dem Schmied gesagt, daß Guthwulf, als er als Königliche Hand in Meremund ankam, die Erkyngarde mitnahm und zu den Häusern der Kranken ging. Sie brachten Hämmer, Nägel und Bretter mit und versiegelten die Häuser.«
»Mit den Menschen darin?« erkundigte sich Simon, zugleich entsetzt und fasziniert.
»Natürlich. Damit sich die Pest nicht ausbreitet. Sie nagelten die Häuser zu, damit die Angehörigen der Kranken nicht weglaufen und die Seuche auf andere übertragen konnten.« Jeremias hob den Ärmel und wischte wieder.
»Aber ich dachte, die Pest käme von den üblen Dünsten aus der Erde?«
»Trotzdem kann man sich anstecken. Darum sind ja auch so viele Priester und Mönche und Wundärzte gestorben. Der Mönch hat erzählt, die Straßen von Meremund wären nachts, viele Wochen lang, gewesen wie … wie … was hat er noch gesagt? ›Wie die Hallen der Hölle.‹ Man konnte die Leute in den zugenagelten Häusern heulen hören wie Hunde. Endlich, als alles still war, haben Guthwulf und die Erkyngarde die Häuser niedergebrannt. Ungeöffnet.«
Während sich Simon noch über diese letzte Einzelheit wunderte, vernahm man das Geräusch brechender Äste.
»Heda, ihr Faulpelze!« Aus einem Baumdickicht erschien Morgenes, die Gewänder mit Girlanden aus Zweigen und Blättern verziert, um die breite Hutkrempe einen Moosrand. »Ich hätte mir denken können, daß ich euch flach auf dem Rücken finde.«
Simon kam mühsam auf die Füße. »Wir sitzen erst ganz kurz hier, Doktor«, erklärte er. »Wir haben lange gesammelt.«
»Vergiß nicht, ihn zu fragen!« zischte Jeremias und richtete sich auf.
»Hm«, sagte Morgenes und betrachtete kritisch ihre Bündel. »Scheint so, als hättet ihr es unter den gegebenen Umständen ganz ordentlich gemacht. Laßt sehen, was ihr gefunden habt.« Er hockte sich nieder wie ein Bauer, der Unkraut aus einer Baumhecke zupft, und fing an, die Sammlungen der Jungen zu durchsieben. »Ah! Teufelsohr«, schrie er und hielt einen muschelförmigen Pilz in das einfallende Sonnenlicht. »Hervorragend!«
»Doktor«, setzte Simon an, »ich wollte Euch um eine kleine Gefälligkeit bitten.«
»Hmmm?« Morgenes stocherte in Pilzstücken herum, wobei er ein ausgebreitetes Taschentuch als Tisch benutzte.
»Nun, Jeremias möchte gern in die Garde eintreten – oder wenigstens den Versuch machen. Das Problem ist, daß Graf Breyugar uns Burgleute kaum kennt und Jeremias keine Verbindung zu solchen Kreisen hat.«
»Das«, versetzte Morgenes trocken, »ist kein Wunder.« Er leerte das nächste Bündel aus.
»Meint Ihr, daß Ihr ihm einen Empfehlungsbrief schreiben könntet? Ihr seid überall wohlbekannt.« Simon versuchte, gelassen zu klingen. Isaak betrachtete den schwitzenden Jeremias mit einer Mischung aus Respekt und Erheiterung.
»Hmmm.« Der Tonfall des Doktors verriet nichts. »Ich habe den Verdacht, daß ich bei Breyugar und seinen Freunden nur allzubekannt bin.« Er schaute auf und fixierte Jeremias mit scharfem Blick.
»Weiß Jakob davon?«
»Er … er kennt meine Gefühle«, stotterte Jeremias.
Morgenes stopfte alles Gesammelte in einen Sack und gab den Jungen ihre Tücher zurück. Anschließend stand er auf und klopfte sich die Blätter und Baumnadeln aus dem Gewand.
»Ich denke, das könnte ich«, sagte er dann, als sie sich auf den Rückweg zum Hochhorst machten. »Ich glaube zwar nicht, daß ich das gutheiße – und noch weniger glaube ich, daß eine Botschaft von mir sie alle respektvoll Haltung annehmen lassen wird –, aber wenn Jakob Bescheid weiß, wird es ja wohl in Ordnung sein.« Sie wateten im Gänsemarsch durch das stachlige Dickicht.
»Danke, Doktor«, sagte Jeremias atemlos.
»Ich bezweifle, daß sie dich haben wollen.« Isaak hörte sich ein bißchen neidisch an. Je mehr sie sich der Burg näherten, desto stärker schien auch seine Hochnäsigkeit wiederzukehren.
»Doktor Morgenes«, bemerkte Simon und bemühte sich nach besten Kräften um einen Ton wohlwollender Uninteressiertheit, »vielleicht sollte ich den Brief schreiben, und Ihr könntet ihn nachsehen und unterzeichnen? Wäre das nicht eine gute Übung für mich?«
»Wirklich, Simon«, erwiderte der Doktor und stieg über einen umgestürzten Baumstamm, »das ist eine glänzende Idee. Ich freue mich, daß du dich von selbst darum bemühst. Vielleicht mache ich doch noch einen richtigen Lehrling aus dir!«
Diese vergnügte Erklärung des Doktors, der Stolz in seiner Stimme, legten sich auf Simon wie ein Umhang aus Blei. Er hatte noch gar nichts getan, ganz zu schweigen von etwas Bösem, aber er kam sich bereits vor wie ein Mörder oder Schlimmeres. Gerade wollte er noch etwas sagen, als ein Aufschrei die erstickende Waldluft zerriß.
Simon fuhr herum und sah Jeremias, weiß im Gesicht wie Weizenbrei, auf etwas im Dickicht neben dem umgefallenen Baum zeigen. Neben ihm stand schreckerstarrt Isaak. Simon rannte zurück, Morgenes nur einen Schritt hinter ihm.
Es war eine Leiche, die im Fallen halb in das Dickicht gestürzt war. Obwohl das Gesicht überwiegend von Gebüsch verdeckt war, zeigte der fast fleischlose Zustand der sichtbaren Körperteile, daß der Tod schon vor längerer Zeit eingetreten war.
»Ohohoh«, hechelte Jeremias, »er ist tot! Gibt es denn hier Gesetzlose? Was sollen wir tun?«
»Sei still«, fuhr Morgenes ihn an, »das ist nämlich das Erste! Laß mich sehen.« Der Doktor raffte den Saum seines Gewandes und watete in das Dickicht hinein, wo er stehenblieb und vorsichtig die Äste anhob, die den größten Teil des Körpers verbargen.
Nach den Bartsträhnen, die noch immer an dem von Vögeln und Insekten zerfressenen Gesicht hingen, schien es ein Nordländer gewesen zu sein – vielleicht ein Rimmersmann. Er trug unauffällige Reisekleidung, einen leichten Wollmantel und gegerbte Lederstiefel, die inzwischen verfault waren, so daß an einigen Stellen das Pelzfutter zu sehen war.
»Wie ist er gestorben?« fragte Simon. Die leeren Augenhöhlen, dunkel und geheimnisvoll, beunruhigten ihn. Der zahnige Mund, von dem das Fleisch geschrumpft und zurückgewichen war, schien zu grinsen, als liege der Kadaver hier seit Wochen, voller Freude über irgendeinen tristen Scherz.
Mit einem Stock schob Morgenes das Wams zur Seite. Ein paar Fliegen erhoben sich träge und umkreisten ihn. »Seht«, sagte er.
Aus einem kreisrunden Loch im ausgedörrten Leib des Toten ragte der Stumpf eines Pfeils, knapp eine Handbreit über den Rippen abgebrochen.
»Der Schütze hatte es wohl eilig – und wollte nicht, daß man seinen Pfeil erkennt.«
Sie mußten einen Augenblick auf Isaak warten, der sich geräuschvoll erbrach, bevor sie zurück zur Burg eilen konnten.