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IX

Rauch im Wind

»Hast du's bekommen? Hat er was gemerkt?« Trotz der vielen Stunden in der Sonne immer noch blaß, hüpfte Jeremias neben Simon her wie die Schafsschwimmblase eines Fischernetzes.

»Ich hab's«, knurrte Simon. Jeremias' Aufregung irritierte ihn; sie schien nicht recht zu dem männlichen Ernst ihres Vorhabens zu passen. »Du denkst zuviel.«

Jeremias war nicht beleidigt. »Wenn du es nur hast«, meinte er überglücklich.

Die Mittelgasse, zum harten Mittagshimmel offen, das Zeltdach zurückgerollt, war so gut wie ausgestorben. Hier und da lungerten die Männer der Stadtwache, in gelben Uniformen, um ihre unmittelbare Zugehörigkeit zu Graf Breyugar zu bekunden, aber mit Schärpen im Grün des Königs, in den Hausgängen herum oder würfelten an den Mauern geschlossener Läden miteinander. Obwohl der Morgenmarkt längst vorbei war, kam es Simon trotzdem so vor, als sei viel weniger Volk auf der Straße als gewöhnlich. Hauptsächlich sah man die Heimatlosen, die in den vergangenen Wintermonaten nach Erchester geströmt waren, aus ihren Wohnorten vertrieben von ausgetrockneten Bächen und versiegenden Brunnen. Sie standen oder saßen im Schatten von Steinmauern und Gebäuden, teilnahmslose Klumpen mit langsamen, ziellosen Bewegungen. Die Wachen drängten sich an ihnen vorbei oder stiegen über sie hinweg wie über Straßenköter.

Die beiden Jungen bogen von der Mittelgasse nach rechts in den Tavernenweg ein, die größte der Fahrstraßen, die die Mittelgasse kreuzten. Hier gab es mehr Leben, obwohl auch jetzt die meisten Menschen Soldaten waren. Die Hitze hatte sie größtenteils in die Häuser getrieben; sie lehnten sich, Humpen in der Hand, aus den niedrigen Fenstern und betrachteten Simon und Jeremias und das vielleicht halbe Dutzend weiterer Vorübergehender mit bierseliger Gleichgültigkeit.

Ein Bauernmädchen im hausgesponnenen Rock, wahrscheinlich die Tochter irgendeines Stallknechts, dem Krug nach zu schließen, den sie auf der Schulter balancierte, kam eilig die Straße herauf. Ein paar Soldaten pfiffen und riefen ihr nach, aber das Mädchen blickte nicht auf, sondern trottete zielstrebig weiter, das Kinn auf der Brust. Ihre Hast, verbunden mit dem schweren Krug, machte ihre Schritte kurz. Wohlgefällig beobachtete Simon ihren geschmeidigen Hüftschwung und drehte sich sogar einmal um sich selbst, um sie im Auge zu behalten, bis sie plötzlich in ein kleines Gäßchen einschwenkte und verschwand.

»Simon, jetzt komm!« rief Jeremias. »Da drüben ist es!«

In der Mitte des Gebäudekomplexes stand, aus dem Tavernenweg aufragend wie ein Felsblock auf ausgefahrener Straße, der Dom des heiligen Sutrin. Im Stein seines gewaltigen Antlitzes spiegelte sich stumpf die geduldige Sonne. Die hohen Bögen und gewölbten Strebepfeiler warfen schmale Schatten über die Nester von Wasserspeiern, deren muntere Grimassengesichter vergnügt gackernd und scherzend über die Schultern humorloser Heiliger hinabspähten. Von der Fahnenstange über den hohen Doppeltüren hingen drei schlaffe Wimpeclass="underline" Elias' grüner Drache, Säule und Baum der Kirche, und ganz unten der goldene Kronreif im weißen Feld der Stadt Erchester. Zwei Stadtwachen lehnten an den geöffneten Türen, und ihre Hellebarden standen mit den Spitzen nach unten im breiten steinernen Türrahmen.

»Also los«, bemerkte Simon grimmig und stieg, Jeremias dicht auf den Fersen, die zwei Dutzend Marmorstufen hinauf. Oben hob eine der Wachen nachlässig die Hellebarde und versperrte den Eingang. Der Mann hatte die Kapuze seines Kettenhemdes zurückgeschlagen, so daß sie ihm um die Schultern hing wie ein Schleier.

»Was wollt ihr hier?« fragte er mit zusammengekniffenen Augen. »Eine Botschaft für Breyugar.« Simon stellte beschämt fest, daß seine Stimme brach. »Für Graf Breyugar, von Doktor Morgenes vom Hochhorst.« Ein wenig trotzig streckte er das zusammengerollte Pergament vor. Der Wachmann, der gesprochen hatte, nahm es und warf einen flüchtigen Blick auf das Siegel. Der andere starrte eindringlich nach oben zum gemeißelten Türsturz, als hoffe er, dort seine Dienstbefreiung für den Tag geschrieben zu finden.

Die erste Wache reichte Simon achselzuckend das Pergament zurück. »Hier durch und dann links. Treibt euch aber nicht herum.«

Empört richtete sich Simon zu voller Höhe auf. Wenn er erst Wachmann war, würde er sich um ein Vielfaches würdiger benehmen als diese gelangweilten, unrasierten Trottel. Wußten sie nicht, welche Ehre es war, das königliche Grün zu tragen? Er trat mit Jeremias an ihnen vorbei und ins kühle Innere von Sankt Sutrin.

Nichts regte sich im Vorraum, nicht einmal die Luft, aber Simon konnte sehen, wie das Licht auf Gestalten spielte, die sich hinter der Türöffnung auf der anderen Seite bewegten. Anstatt sofort nach der Tür links zu gehen, blickte er sich um, ob die Wächter ihn beobachteten – was sie natürlich nicht taten –, und marschierte dann weiter, um in das große Hauptschiff des Domes hineinzusehen.

»Simon!« zischte Jeremias unruhig. »Was tust du da! Da drüben, haben sie gesagt.« Er deutete auf die Tür ganz links. Aber Simon achtete nicht auf seinen Begleiter und steckte den Kopf durch die Tür. Nervös vor sich hinmurmelnd, kam Jeremias hinterher.

Es ist wie auf einem von diesen frommen Bildern, dachte Simon, ganz hinten sieht man Usires und den Baum, und ganz vorn die Gesichter von Nabbanai-Bauern und solchen Leuten.

Tatsächlich war das Kirchenschiff so groß und hoch, daß es ihm wie eine ganze Welt vorkam. Von den obersten Deckenbögen strömte, von den bunten Fenstern wie durch Wolken gedämpft, Sonnenlicht herein. Weißgekleidete Priester bevölkerten den Altar, putzend und polierend wie kahlgeschorene Dienstmägde. Simon vermutete, daß sie den Gottesdienst zu Elysiameß vorbereiteten, der in wenigen Wochen stattfinden würde.

Näher an der Tür, ebenso geschäftig, sonst aber in jeder Beziehung anders, drängten sich Breyugars Stadtwachen in ihren gelben Wämsern, hier und da untermischt mit der grünen Tracht der Erkyngarde vom Hochhorst oder der graubraunen oder schwarzen Kleidung eines angesehenen Bürgers von Erchester. Die beiden Gruppen schienen voneinander völlig getrennt; es dauerte einen Augenblick, bis Simon die Schranke aus Brettern und Schemeln bemerkte, die man zwischen dem vorderen und dem hinteren Teil des Domes errichtet hatte. In plötzlichem Erkennen begriff Simon, daß diese Abgrenzung nicht dazu diente, die hin und her eilenden Priester im Inneren der Kirche zu halten, wie man zunächst hätte glauben können – nein, ihr Zweck war vielmehr, die Soldaten auszusperren. Es schien, als hätten Bischof Domitis und die Priester noch immer nicht die Hoffnung aufgegeben, daß die Besetzung ihrer Kathedrale durch den Befehlshaber der königlichen Wachen kein Dauerzustand bliebe.

Als Simon und Jeremias die Treppe weiter hinaufstiegen, mußten sie nacheinander noch drei anderen Wachtposten ihr Pergament zeigen, wobei diese wesentlich wacher waren als die beiden an der schweren Eingangstür – entweder weil sie hier drinnen keine Sonne ertragen mußten, oder weil die Nähe zum Gegenstand ihres Schutzes zunehmend größer wurde.

Endlich standen die Jungen in einem überfüllten Wachraum vor einem narbengesichtigen, zahnlückigen Veteran, dessen Miene vielgeplagter Gleichgültigkeit zusammen mit dem Gürtel voller Schlüssel Autorität anzeigte.

»Ja, der edle Graf Breyugar ist heute anwesend. Gebt mir den Brief, ich werde ihn weiterleiten.« Der Unteroffizier kratzte sich ungerührt am Kinn.

»Nein, Herr, wir müssen ihn selbst überreichen. Er ist von Doktor Morgenes.« Simon bemühte sich, energisch zu klingen. Jeremias schlug die Augen nieder.

»Tatsächlich? Was ihr nicht sagt.« Der Mann spuckte auf den mit Sägemehl bestreuten Fußboden. Hier und da schimmerten Marmorfliesen durch. »Ädon soll mich beißen, was für ein Tag! Nun, dann wartet hier.«

»Aha. Was haben wir hier?« Graf Breyugar saß am Tisch vor den Knochenresten einer Mahlzeit, die aus kleinen Vögeln bestanden hatte. Er hob eine Augenbraue. Seine feingeschnittenen Züge waren im Fleisch der Hängebacken fast verschwunden. Er hatte die Hände eines Musikers, langfingrig und schmal.