Johan der Priester saß wieder auf seinem Thron aus Drachenbein. Er war alt, sehr alt, und hatte geweint.
»Ach, Strupp«, flüsterte er endlich, und seine Stimme war tief, doch brüchig vom Alter, »das muß wohl doch ein unbarmherziger Gott sein, der mich in diesen elenden Zustand versetzen konnte.«
»Vielleicht, Herr.« Der kleine alte Mann im buntscheckigen Wams lächelte ein runzliges Lächeln. »Vielleicht … aber gewiß würden andere nicht über Grausamkeit klagen, wenn sie Eure Stellung im Leben erreicht hätten.«
»Aber das meine ich ja gerade, alter Freund!« Der König schüttelte unwillig den Kopf. »In diesem Schattenalter schwacher Hinfälligkeit sind alle Menschen gleich geworden. Jeder holzköpfige Schneiderlehrling hat mehr vom Leben als ich!«
»Ach, nicht doch, Herr…« Strupps grauer Kopf wackelte von einer Seite auf die andere, aber die Glöckchen an seiner Kappe, lange schon ohne Klöppel, klingelten nicht. »Herr, Ihr beklagt Euch zu angemessener Zeit, doch ohne angemessene Vernunft. Alle Menschen, ob groß oder klein, geraten in diesen Zustand. Ihr hattet ein schönes Leben.«
Johan der Priester hielt den Griff von Hellnagel vor sich wie einen Heiligen Baum. Er fuhr sich mit dem Rücken der langen, schmalen Hand über die Augen.
»Kennst du die Geschichte dieser Klinge?« fragte er. Strupp sah mit scharfem Blick zu ihm auf; er hatte die Geschichte viele Male gehört.
»Erzählt sie mir, o König«, erwiderte er ruhig.
Johan der Priester lächelte, ließ aber den lederumwundenen Griff vor sich nicht aus den Augen. »Ein Schwert, kleiner Freund, ist die Verlängerung der rechten Hand eines Mannes … und der Endpunkt seines Herzens.« Er hob die Klinge höher, bis sich ein Lichtschimmer aus einem der winzigen, hohen Fenster darin fing. »Genauso ist der Mensch die gute rechte Hand Gottes – er ist der Scharfrichter von Gottes Herz. Verstehst du?«
Jäh beugte er sich hinab, die Augen unter buschigen Brauen vogelblank. »Weißt du, was das ist?« Seine zitternden Finger deuteten auf ein Stückchen krummes, rostiges Metall, das mit Golddraht im Heft des Schwertes befestigt war.
»Sagt es mir, Herr.« Strupp wußte es ganz genau.
»Das ist der einzige Nagel des wahren Richtbaumes, den es in Osten Ard noch gibt.« Johan der Priester führte den Schwertgriff an die Lippen und küßte ihn. Dann hielt er das kühle Metall an die Wange. »Dieser Nagel stammt aus der Handfläche von Usires Ädon, unserem Erlöser … aus seiner Hand…« Die Augen des Königs, in die von oben sekundenlang ein seltsames Halblicht fiel, waren feurige Spiegel. »Und dann ist da natürlich auch die Reliquie«, fügte er nach einem Augenblick des Schweigens hinzu, »der Fingerknochen Sankt Eahlstans des Gemarterten, des vom Drachen Getöteten, genau hier im Griff…«
Wieder eine Pause der Stille. Als Strupp aufblickte, hatte sein Gebieter von neuem angefangen zu weinen.
»Pfui, pfui über alles!« stöhnte Johan. »Wie kann ich mich der Ehre Gottes würdig erweisen, wenn immer noch soviel Sünde, solch schwere Sündenlast, meine Seele befleckt? Ach, der Arm, der einst den Drachen erschlug, kann heute kaum noch die Milchtasse heben, geschweige denn das Schwert des Herrn. Ich sterbe, mein lieber Strupp, ich sterbe!«
Der Narr beugte sich vor, löste eine der knochigen Königshände vom Schwertgriff und küßte sie. Der alte König schluchzte.
»Ich bitte Euch, Gebieter«, flehte Strupp. »Weint doch nicht mehr! Alle Menschen müssen sterben – Ihr, ich, jedermann. Bringen uns nicht jugendliche Torheit oder ein Mißgeschick zu Tode, so ist es unser Schicksal, dahinzuleben wie die Bäume, älter und älter zu werden, bis wir endlich schwanken und stürzen. So geht es mit allen Dingen. Wie könnt Ihr Euch dem Willen des Herrn widersetzen?«
»Aber ich habe dieses Reich gegründet!« Johan Presbyter erfüllte bebender Zorn, als er die Hand aus dem Griff des Narren riß und sie jäh auf die Armlehne des Thrones fallen ließ. »Das muß jeden Sündenfleck auf meiner Seele aufwiegen, so schwarz er auch sein mag! Ganz gewiß wird der Gute Gott das in seinem Rechnungsbuch stehen haben! Ich zog diese Menschen aus dem Schlamm, geißelte die verfluchten, heimtückischen Sithi aus dem Land, gab den Bauern Recht und Gesetz … das Gute, das ich getan habe, muß schwer wiegen.« Seine Stimme wurde vorübergehend schwächer, als wanderten seine Gedanken in die Ferne.
»Ach, mein alter Freund«, meinte er endlich mit bitterer Stimme, »und jetzt kann ich nicht einmal mehr die Mittelgasse bis zum Marktplatz hinuntergehen! Im Bett muß ich liegen oder mich am Arm jüngerer Männer durch dieses kalte Schloß schleppen. Mein … mein Reich liegt verfaulend auf der Streu, während vor meiner Schlafzimmertür die Diener flüstern und auf Zehenspitzen gehen! Alles in Sünde!«
Die Worte des Königs hallten von den Steinwänden des Saales wider und zerfielen langsam zwischen den tanzenden Staubkörnchen. Strupp ergriff von neuem die Hand des Herrschers und drückte sie, bis der König seine Fassung wiedergewonnen hatte.
»Nun gut«, bemerkte Johan der Priester nach einiger Zeit, »wenigstens wird mein Elias mit festerer Hand regieren, als ich es jetzt kann. Als ich heute sah, wie hier alles verfällt«, er machte eine Handbewegung, die den ganzen Thronsaal umfaßte, »habe ich beschlossen, ihn aus Meremund zurückzurufen. Er muß sich darauf vorbereiten, die Krone zu übernehmen.« Der König seufzte. »Wahrscheinlich sollte ich dieses weibische Geflenne einstellen und dankbar sein, daß ich habe, was viele Könige nicht haben: einen starken Sohn, der mein Reich zusammenhält, wenn ich nicht mehr bin.«
»Zwei starke Söhne, Herr.«
»Pah!« Der König verzog das Gesicht. »Ich könnte Josua vieles nachsagen, aber ich glaube nicht, daß ›Stärke‹ dazugehört.«
»Ihr seid zu hart mit ihm, Gebieter.«
»Unsinn. Willst du mich belehren? Kennt der Narr den Sohn besser als sein Vater?« Johans Hand zitterte, und sekundenlang schien es, als wolle er sich mühsam erheben. Endlich ließ die Spannung nach.
»Josua ist ein Zyniker«, begann der König mit ruhigerer Stimme weiterzusprechen. »Ein Zyniker, ein Melancholiker, kalt zu seinen Untertanen. Ein Königssohn ist ja nur von Untertanen umgeben – und jeder einzelne davon kann ein Meuchelmörder sein. Nein, Strupp, er ist seltsam, mein jüngerer, vor allem, seit … seit er die Hand verlor. Ach, barmherziger Ädon, vielleicht ist es meine Schuld.«
»Was meint Ihr, Herr?«
»Ich hätte mir vielleicht eine neue Frau nehmen sollen, nach Ebekahs Tod. Ein kaltes Haus war es ohne Königin … vielleicht ist das der Grund für das merkwürdige Wesen des Jungen. Aber Elias ist trotzdem nicht so.«
»Prinz Elias' Wesen ist von einer gewissen rohen Geradlinigkeit«, murmelte der Narr, aber falls der König es hörte, ließ er es sich nicht anmerken.
»Ich danke dem wohltätigen Gott, daß Elias der Erstgeborene ist. Hat einen tapferen, kriegerischen Charakter, der Junge – ich glaube, wenn er der Jüngere wäre, säße Josua nicht sicher auf dem Thron.« Bei dem Gedanken schüttelte der König mit kalter Zuneigung den Kopf, tastete dann nach unten, packte seinen Narren beim Ohr und kniff ihn, als sei der kleine Alte ein Kind von fünf oder sechs Jahren.
»Versprich mir eins, Strupp…«
»Ja, Herr?«
»Wenn ich sterbe – und das wird bald sein, denn ich glaube nicht, daß ich den Winter überlebe –, mußt du Elias in diesen Saal führen … meinst du, daß die Krönung hier stattfinden wird? Und wenn schon – dann mußt du eben warten, bis sie vorbei ist. Anschließend bring ihn her und gib ihm Hellnagel. Ja, nimm das Schwert jetzt an dich, und verwahre es. Ich fürchte, daß ich vielleicht schon sterbe, während er noch weit weg ist, in Meremund oder an einem anderen Ort, und ich möchte, daß das Schwert mit meinem Segen ohne Umwege in seine Hände gelangt. Verstehst du mich, Strupp?«