»Einen Brief, edler Herr.« Simon, auf ein Knie gesunken, streckte ihm die Pergamentrolle entgegen.
»Dann gib ihn doch her, Junge.« Die Stimme des Grafen war hoch und weibisch, aber Simon hatte gehört, daß Breyugar ein furchteinflößender Schwertkämpfer war – diese schlanken Hände hatten schon viele Männer getötet.
Während der Graf die Botschaft las, wobei er die fettglänzenden Lippen bewegte, bemühte sich Simon, die Schultern gerade und den Rücken steif wie einen Hellebardenstock zu halten. Aus dem Augenwinkel glaubte er zu sehen, daß der grauhaarige Unteroffizier ihn ansah, darum zog er das Kinn ein, starrte geradeaus und dachte darüber nach, wie vorteilhaft er doch von den schlaffen Dummköpfen abstechen mußte, die an den Domtüren Wache standen.
»Bitte laßt Euch … die Überbringer … für den Dienst unter der Führung Eurer gräflichen Gnaden … empfohlen sein…«, las Breyugar laut. Seine Betonung ließ Simon sekundenlang in Panik geraten – hatte er gesehen, daß Simon aus dem »den« ein »die« gemacht hatte? Er hatte ein bißchen undeutlich geschrieben, damit es nicht auffiel.
Graf Breyugar, den Blick auf Simon geheftet, gab seinem Stabsunteroffizier den Brief. Der las ihn, noch langsamer als Breyugar, während der Edelmann den Jungen von oben bis unten musterte und dann auch dem noch immer knienden Jeremias einen kurzen Blick zuwarf. Als der Unteroffizier den Brief zurückreichte, stand ihm ein Grinsen im Gesicht, das zwei fehlende Zähne und eine rosa Zunge, die im dunklen Abgrund herumbohrte, enthüllte.
»So.« Breyugar flötete den Ton wie einen kummervollen Atemzug. »Morgenes, der alte Apotheker, möchte, daß ich ein Paar Burgmäuse aufnehme und Männer aus ihnen mache.« Er nahm eine winzige Keule vom Teller und knabberte an dem Knochen. »Unmöglich.«
Simon fühlte seine Knie nachgeben und den Magen bis zum Hals hochsteigen. »Aber … aber warum?« stammelte er.
»Weil ich euch nicht brauche. Ich habe Kämpfer genug. Euch kann ich mir nicht leisten. Niemand kann etwas pflanzen, wenn es nicht regnet, und es stehen schon genügend Männer bei mir nach einer Arbeit an, die sie ernährt. Aber das Wichtigste ist, daß ich euch nicht will – ein paar talgweiche Burgjungen, denen im Leben noch nichts Schmerzhaftes zugestoßen ist als ein Klaps auf ihre rosa Ärsche, weil sie Kirschen geklaut haben. Macht, daß ihr verschwindet. Wenn es Krieg gibt, weil diese lästerlichen Heiden in Hernystir sich weiter dem Willen des Königs widersetzen oder der Verräter Josua wieder auftaucht, könnt ihr eine Mistgabel oder Sense führen wie die anderen Bauern – oder vielleicht sogar dem Heer folgen und die Pferde tränken, falls wirklich nicht genug Männer da sein sollten. Aber Soldaten, das werdet ihr nie! Der König hat mich nicht zum Befehlshaber seiner Wachen ernannt, damit ich Gründlinge hüte. Unteroffizier, zeig diesen Burgmäusen ein Loch zum Wegrennen.«
Auf dem ganzen langen Weg zurück zum Hochhorst sprachen weder Simon noch Jeremias ein einziges Wort. Als Simon in seinem Alkoven hinter dem Vorhang allein war, zerbrach er sein Faßstockschwert über dem Knie. Er weinte nicht. Er würde nicht weinen.
Es liegt etwas Merkwürdiges im Nordwind heute, dachte Isgrimnur. Etwas, das wie ein Tier riecht oder ein Sturm, der gleich losbrechen wird, oder beides … irgend etwas Kratziges, das mir die Nackenhaare aufstellt.
Er rieb sich die Hände, als sei die Luft kalt, was nicht der Fall war, und schob die Ärmel seines leichten Sommerwamses – in diesem seltsamsten aller Jahre um Monate zu früh angezogen – über den von dicken Adern durchzogenen alten Unterarmen zurück. Wieder ging er an die Tür und schaute hinaus, peinlich berührt, daß ein alter Soldat wie er solche Halbwüchsigenspiele spielte.
Wo steckt bloß dieser verdammte Hernystirmann?
Er machte kehrt, um sein Hin- und Herwandern wieder aufzunehmen, wäre fast über einen Stapel Urkundenkästen gestolpert und blieb statt dessen mit einer Stiefelschnalle an der untersten Rolle einer kleinen Pyramide aus Pergamenten hängen, die seinen ohnehin beschränkten Bewegungsspielraum einengten. Vollmundig fluchend, bückte er sich gerade noch rechtzeitig, um den Aufbau am Einstürzen zu hindern. Gewiß war der verlassene Raum im Staatsarchiv – leergeräumt, damit die Schreibpriester dort ihre Elysiameß-Rituale durchführen konnten – der beste Ort, den man in der Eile für eine heimliche Zusammenkunft hatte finden können … aber warum konnten die Kerle zwischen ihren verdammten Klecksereien nicht wenigstens soviel Platz lassen, daß ein erwachsener Mann sich noch bewegen konnte?
Der Türriegel klapperte. Herzog Isgrimnur, erleichtert, daß das Warten vorüber war, sprang vorwärts. Statt vorsichtig hinauszuspähen, riß er die Tür weit auf, fand jedoch nicht, wie erwartet, zwei Männer vor, sondern nur einen.
»Gelobt sei Ädon, daß Ihr endlich kommt, Eolair!« bellte er. »Wo ist der Escritor?«
»Psst!« Der Graf von Nad Mullagh hielt zwei Finger an die Lippen, trat ein und zog die Tür hinter sich zu. »Mehr Ruhe! Der Erzbischof schwatzt gleich nebenan in der Halle herum.«
»Und was geht mich das an?« rief der Herzog, jedoch nicht so laut wie vorher. »Sind wir Kinder, daß wir uns vor diesem ledrigen alten Eunuchen verstecken müssen?«
»Wenn Ihr ein Treffen wolltet, von dem alle wissen«, erwiderte Eolair und setzte sich auf einen Hocker, »warum verbergen wir uns dann in einem Schrank?«
»Es ist kein Schrank«, brummte der Rimmersmann, »und Ihr wißt ganz genau, warum ich Euch hierher bestellt habe und weshalb in der Inneren Feste kein Geheimnis sicher ist. Wo ist Escritor Velligis?«
»Er fand, ein Schrank sei nicht der rechte Platz für die rechte Hand des Lektors«, lachte Eolair. Isgrimnur schwieg still. Wegen seines geröteten Gesichts hielt er den Hernystirmann für betrunken oder zumindest für angeheitert. Am liebsten wäre er das auch gewesen.
»Ich hielt es für wichtig, uns an einem Ort zu treffen, an dem man offen reden kann«, erklärte Isgrimnur schließlich. »Man hat uns in letzter Zeit allzu oft miteinander ins Gespräch vertieft gesehen.«
»Nein, Isgrimnur, Ihr seid es, der recht hat.« Eolair machte eine beruhigende Handbewegung. Er war für die Feiern zum Liebfrauentag gekleidet, bei denen er die Rolle des respektvollen Außenseiters spielte – eine Rolle, die den heidnischen Hernystiri gut stand. Sein Festtagswams aus weißem Stoff war dreifach gegürtet, jeder Gürtel mit Gold oder emailliertem Metall verziert, und seine lange schwarze Haarmähne am Hinterkopf mit einem goldenen Band zusammengebunden. »Ich habe nur einen Scherz gemacht, und es ist ein trauriger Scherz«, fuhr er fort, »wenn König Johans ergebenste Untertanen im Geheimen zusammenkommen müssen, um über Dinge zu sprechen, die kein Treuebruch sind.«
Isgrimnur schritt langsam zur Tür und bewegte den Riegel, um sicherzustellen, daß er eingeschnappt war. Dann machte er kehrt, lehnte den breiten Rücken gegen das Holz und kreuzte die Arme über der mächtigen Brust. Auch er war festlich gekleidet, mit feinem, leichtem, blauem Wams und blauen Beinlingen. Aber die Flechten seines Bartes waren vom nervösen Herumzupfen bereits gelockert und die Beinlinge am Knie ausgebeult. Der Herzog haßte es, sich feinzumachen.
»Nun«, brummte er endlich und warf trotzig den Kopf in den Nacken, »soll ich zuerst reden, oder wollt Ihr es tun?«
»Wir brauchen uns nicht darum zu sorgen, wer als erster spricht«, erwiderte der Graf.
Für eine flüchtige Sekunde erinnerte die Röte in Eolairs Gesicht, die Farbe auf seinen hohen, schmalen Wangenknochen, den Älteren an etwas, das er vor vielen Jahren einmal gesehen hatte: eine gespenstische Gestalt, auf die er über fünfzig Meter Rimmersgard-Schnee einen kurzen Blick erhascht hatte.