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Isgrimnur lachte, ein kurzer, bellender Laut. »Allerdings. Darum habe ich auch geschwiegen. Ich hatte ihn losgeschickt, als Skali von Kaldskryke seine Verwandten mitnahm und nach Norden aufbrach. Scharfnase hat an Elias' Hof für meinen Geschmack zu viele neue Freunde gefunden, darum sandte ich Bindesekk mit einer Botschaft zu meinem Sohn Isorn. Solange Elias mich mit seinen lächerlichen Aufträgen hier festhält, diesen Theatervorstellungen vorgetäuschter Diplomatie, die angeblich so wichtig sein sollen – wenn sie das wirklich wären, warum vertraut man sie dann einem ungeschliffenen alten Kriegshund wie mir an? –, so lange wollte ich, daß Isorn ganz besonders auf der Hut ist. Ich traue Skali nicht mehr als einem verhungernden Wolf, und mein Sohn hat nach allem, was ich höre, schon genug Ärger zu Hause. Alle Nachrichten, die über die Frostmark hierher durchsickern, sind schlecht – tobende Stürme im Norden, unsichere Straßen, Dorfbewohner, die sich in den großen Hallen zusammendrängen müssen. Wir leben in unruhigen Zeiten, und Skali weiß das.«

»Glaubt Ihr denn, daß es Skali war, der Euren Mann umbrachte?« Eolair beugte sich vor und reichte Isgrimnur abermals den Schlauch.

»Ich weiß es nicht, soviel steht fest.« Der Herzog legte den Kopf in den Nacken und tat erneut einen langen Zug. Die Muskeln in seinem dicken Hals pochten; ein dünner Metfaden troff auf das blaue Wams. »Was ich damit meine: Es sieht zwar sehr danach aus, aber ich habe dennoch Zweifel.« Er rieb einen Augenblick gedankenverloren über den Fleck. Denn selbst wenn er Bindesekk gestellt hätte, wäre es Hochverrat gewesen, ihn zu töten. »So sehr er mich auch verachten mag, ist Skali doch mein Lehnsmann, und ich bin sein Lehnsherr.«

»Aber der Leichnam wurde versteckt.«

»Nicht sehr gut versteckt. Warum so nahe bei der Burg? Warum nicht abwarten, bis Bindesekk die Wjeldhelmberge erreichte – oder die Frostmarkstraße, sofern sie überhaupt passierbar war – und ihn dann erledigen, wo man ihn nie finden würde? Außerdem sieht mir der Pfeil nicht nach Skali aus. Ich könnte mir vorstellen, daß er Bindesekk vor lauter Wut mit seiner großen Axt in Stücke hackt, aber ihn zu erschießen und dann in den Kynswald zu werfen? Irgendwie paßt das nicht zu ihm.«

»Wer dann?«

Isgrimnur schüttelte den Kopf und spürte endlich seinen Met. »Das ist es, was mir Sorgen macht, Hernystirmann«, antwortete er nach einer Weile. »Ich weiß es einfach nicht. Es gehen eigenartige Dinge vor. Geschichten von Reisenden, Gerüchte in der Burg…«

Eolair trat zur Tür, entriegelte sie und schob sie auf, um frische Luft in den kleinen Raum zu lassen. »Wirklich, es sind seltsame Zeiten, Herzog«, sagte er und holte tief Atem. »Doch nun die vielleicht wichtigste Frage von allen: Wo in all dieser sonderbaren Welt steckt Prinz Josua?«

Simon nahm ein kleines Stückchen Feuerstein und schickte es mit einer Drehbewegung hinaus in die Weite. Es beschrieb einen anmutigen Bogen durch die Morgenluft und landete dann mit gedämpftem Aufprall in einem entlaubten, in Tierform gestutzten Busch unten im Garten. Simon kroch an den Rand des Kapellendachs und nahm die Einschlagstelle wie ein erfahrener Katapultschütze zur Kenntnis, wobei er besonders auf das Beben der Hinterläufe des Hecken-Eichhörnchens achtete. Dann rollte er von der Dachrinne zurück und in den Schatten eines Schornsteins. Er genoß die kühle Festigkeit der Steine unter seinem Rückgrat. Von oben starrte das grelle Auge der Marris-Sonne herunter, die sich ihrem mittäglichen Scheitelpunkt näherte.

Es war ein Tag, an dem man am liebsten aller Verantwortung aus dem Weg ging und sich vor Rachels Aufträgen gleichermaßen drückte wie vor Morgenes' Erläuterungen. Der Doktor hatte Simons mißglückten Vorstoß auf das Gebiet der Kriegskunst bisher nicht entdeckt – oder jedenfalls nicht erwähnt –, und Simon wollte es gern dabei belassen.

Vor ihm dehnte sich das große Kapellendach, ein Feld aus buckligen, unregelmäßigen Schieferplatten, in deren Ritzen dicht geringelte Knäuel aus braunem und fahlgrünem Moos sproßten. Auf wundersame Weise hatte es die Dürre überlebt und klammerte sich jetzt genauso zäh ans Leben, wie es sich an den zerbrochenen Platten festgesetzt hatte. Die Ebene aus Schiefer marschierte vom Dachrinnenrand bergauf bis zur Kuppel der Kapelle, die durch das Dach brach, wie die Schale einer Meeresschildkröte die seichten Wellen einer stillen Bucht durchbricht. Von hier aus gesehen wirkten die farbenprächtigen Glasfenster der Kuppel, die im Inneren der Kapelle in magischen Bildern aus dem Leben der Heiligen leuchteten, dunkel und flach, eine Parade roh gemalter Figuren vor einer eintönig grauen Welt. Am höchsten Punkt der Kuppel hielt ein eiserner Knauf einen goldenen Ädonbaum in die Höhe, aber von Simons Warte aus sah man, daß er lediglich vergoldet war – und das Blattgold schälte sich in schmalen Streifen ab und enthüllte den darunter versteckten Zerfall.

Jenseits der Burgkapelle dehnte sich das Dächermeer in alle Richtungen: die Große Halle, der Thronsaal, die Archive und Dienstbotenunterkünfte, alles schief und krumm, immer wieder ausgebessert oder ersetzt. Die darüberhingehenden Jahreszeiten leckten an grauem Stein und bleierner Schindel und nagten sie schließlich ab. Zu Simons Linker ragte der schlanke, weiße Hochmut des Grünengel-Turms auf. Weiter hinten schaute hinter dem Bogen der Kapellenkuppel die graue, vierschrötige Masse des Hjeldin-Turms hervor wie ein Hund, der dasitzt und Männchen macht.

Als Simon so die Weite der Dächerwelt überblickte, gewahrte er erneut am Rande seines Gesichtsfeldes eine kurze Bewegung. Er fuhr herum und sah, wie in einem Loch am Dachrand das Hinterteil einer kleinen, rußfarbenen Katze verschwand. Er kroch über die Schieferplatten, um nachzuschauen. Als er nahe genug war, um das Loch beobachten zu können, legte er sich wieder auf den Bauch und stützte das Kinn auf die Handrücken. Nichts regte sich mehr.

Eine Katze auf dem Dach, überlegte er. Nun, hier kann außer Fliegen und Tauben ganz gut noch jemand wohnen – wahrscheinlich frißt sie diese herumkratzenden ›Dachratten‹.

Simon, obwohl er bisher nur Schwanz und Hinterbeine des Tieres zu Gesicht bekommen hatte, empfand eine plötzliche Zuneigung zu dieser Dachkatze. So wie er kannte sie die geheimen Gänge, die Ecken und Winkel, und ging überall hin, ohne um Erlaubnis zu fragen. Wie er folgte diese graue Jägerin ihrem Weg ohne Anteilnahme und Wohltätigkeit anderer…

Obwohl Simon wußte, daß dies eine schreckliche Übertreibung seiner Situation war, gefiel ihm der Vergleich recht gut. War er nicht beispielsweise vor vier Tagen, dem Tag nach Elysiameß, unbemerkt auf eben dieses Dach geklettert, um das Antreten der Erkyngarde zu beobachten? Rachel der Drache, ärgerlich darüber, daß er in alles vernarrt war außer in seine Pflichten im Haushalt, den sie als sein wahres – von ihm vernachlässigtes – Reich ansah, hatte ihm vorher verboten, hinunterzugehen und sich unter die Menge am Haupttor zu mischen.

Ruben der Bär, der Burgschmiedemeister, ein Mann mit höckrigen Schultern und gewaltigen Muskeln, hatte Simon erzählt, die Erkyngarde breche nach Falshire auf, zum Ymstrecca-Fluß, östlich von Erchester. Es gebe dort Ärger mit der Wollhändlergilde, hatte Ruben dem Jungen erläutert und ein rotglühendes Hufeisen in einen Wassereimer geworfen. Dann hatte er den aufzischenden Dampf beiseitegewedelt und versucht, die verzwickte Lage zu beschreiben: Anscheinend hatte die Dürre einen derartigen Schaden angerichtet, daß die Schafe der Bauern von Falshire, ihr hauptsächlicher Lebensunterhalt, jetzt von der Krone beschlagnahmt werden mußten, um die verhungernden, obdachlosen Massen zu ernähren, die nach Erchester strömten. Die Wollhändler jammerten, daß sie dadurch ruiniert und ebenfalls in den Hungertod getrieben würden, zogen in den Straßen umher und hetzten die Einwohner gegen den unliebsamen Erlaß des Königs auf.

Und so war Simon am letzten Tiastag heimlich auf das Kapellendach geklettert, um die Erkyngarde davonreiten zu sehen, mehrere Hundert wohlbewaffnete Soldaten und ein Dutzend Ritter unter dem Befehl Fengbalds, dessen Lehen Falshire war. Als der Graf an der Spitze der Garde auszog, prachtvoll anzusehen in seinem roten Wams mit silbergesticktem Adler, bemerkten ein paar von den Abgebrühteren in der Zuschauermenge, daß er offenbar deshalb so viele Soldaten mitnehme, weil er fürchte, seine Untertanen in Falshire würden ihn nicht wiedererkennen, so lange sei er nicht mehr dort gewesen. Andere meinten, er habe eher Angst, daß sie ihn erkennen könnten – Fengbald hatte sich nicht gerade unermüdlich für die Interessen seines Erblehens eingesetzt.