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Simon erinnerte sich mit Wärme an Fengbalds eindrucksvollen Helm, eine Sturmhaube aus glänzendem Silber mit einem ausgebreiteten Schwingenpaar darauf.

Rachel und die anderen haben recht, schoß es ihm plötzlich durch den Kopf. Da sitze ich und träume schon wieder vor mich hin. Fengbald und seine adligen Freunde werden nie auch nur erfahren, daß ich am Leben bin. Ich muß etwas aus mir machen. Schließlich will ich ja nicht ewig ein Kind bleiben, oder? Er kratzte mit einem Kieselstein auf einer Schieferplatte herum und versuchte einen Adler zu zeichnen. Außerdem würde ich in einer Rüstung bestimmt albern aussehen … oder?

Die Erinnerung an die Soldaten der Erkyngarde, die so stolz zum großen Nerulagh-Tor hinausmarschierten, berührte ihn an einem wunden Punkt, wärmte ihm aber doch zugleich das Herz; träge stieß er die Füße von sich und beobachtete die Katzenhöhle, auf ein Zeichen ihrer Bewohnerin hoffend.

Es war eine Stunde nach Mittag, als vorn im Loch eine mißtrauische Nase auftauchte. Simon ritt gerade auf einem Hengst durch die Tore von Falshire, aus allen Fenstern mit Blumen überschüttet. Von der plötzlichen Bewegung wieder aufs Dach zurückgeholt, hielt er den Atem an, als der Rest des Tieres der Nase folgte: eine kleine, kurzhaarige Graue mit einem weißen Fleck vom rechten Auge bis zum Kinn. Der Junge rührte sich nicht, als die Katze, kaum einen halben Faden von ihm entfernt, jäh über irgend etwas erschrak und einen Buckel und schmale Augen bekam. Simon fürchtete, sie hätte ihn bemerkt, aber als er weiter unbeweglich ausharrte, kam sie plötzlich heraus, sprang aus dem Schatten der aufgebogenen Dachkante in den breiten Gang der Sonnenbahn. Entzückt schaute Simon zu, wie das graue Kätzchen einen losen Kiesel fand und ihn flach über die Dachplatten hüpfen ließ, um ihn dann mit geschickter Pfote einzufangen und das Spiel von neuem zu beginnen.

Eine ganze Weile sah er den Possen der Dachkatze zu, bis ein besonders komischer Sturz auf das Katzenhinterteil – das Kätzchen war mit beiden Pfoten über ein Stück Schiefer gerutscht und zum Stehen gekommen, indem es kopfüber in einen Spalt zwischen den Dachplatten gepurzelt war, wo es nun lag und erbost mit dem Schwanz wackelte – ihn dazu brachte, sich zu verraten. Lang unterdrücktes, prustendes Gelächter brach sich Bahn; das Tierchen machte einen Luftsprung, überschlug sich, landete und stürzte zurück in sein Loch, ohne mehr als einen kurzen Blick in Simons Richtung zu werfen. Dieser hastige Abgang ließ den Jungen in einen neuen Lachkrampf verfallen.

»Mach Platz, Katz!« rief er der Verschwundenen zu. »Platz, du Katz! Ratzenkatz!«

Als er auf den Eingang des Loches zukroch, um der Grauen ein kleines Liedchen über Dächer, Steine und Einsamkeit, die sie miteinander geteilt hatten, vorzusingen (irgendwie war er ganz sicher, daß sie ihm zuhören würde), fiel Simon etwas anderes ins Auge. Er hielt sich mit der Hand an der Dachkante fest und reckte den Kopf, um genauer hinzusehen. Ein aufkommender Wind zeichnete ihm feine Muster ins Haar.

Drüben im Südosten, weit jenseits der Grenzen von Erchester und den Vorgebirgen über dem Kynslagh, zog sich eine schmierig-dunkelgraue Spur über den klaren Marrishimmel, als fahre man mit einem schmutzigen Daumen über eine frischgestrichene Wand. Hoch im Hinschauen zerfetzte der Wind den dunklen Streifen, aber nun stiegen von unten große, dunkle Wolken auf, eine wirbelnde Finsternis, so dicht, daß kein Wind sie auseinandertreiben konnte. Am östlichen Horizont türmte sich eine schwarze Wolke.

Es dauerte einen langen, ratlosen Augenblick, bevor Simon begriff, daß es Rauch war, was er da sah, ein dichtes Rauchgewölk, das den blassen, reinen Himmel beschmutzte.

Falshire brannte.

X

König Schierling

Zwei Tage später, am Morgen des letzten Marristages, wollte Simon gerade mit den anderen Küchenjungen zum Frühstück gehen, als ihn eine schwere, schwarze Hand auf seiner Schulter jäh anhalten ließ. Einen unwirklichen, schrecklichen Augenblick lang fand er sich in seinen Thronsaaltraum zurückversetzt, in den schwerfälligen Tanz der Malachitkönige.

Dann aber zeigte sich, daß die Hand einen rissigen, fingerlosen schwarzen Handschuh trug. Auch ihr Besitzer bestand nicht aus dunklem Stein – obwohl es Simon, der verblüfft in das Gesicht von Inch starrte, vorkam, als hätte Gott bei der Erschaffung des Menschen Inch nicht darauf geachtet, genügend Lebensmaterial bereitzuhalten, so daß dieses in letzter Minute durch etwas Lebloses, Unbewegliches hatte ersetzt werden müssen.

Inch beugte sich hinunter, bis sein bärtiges Gesicht ganz nahe vor Simons Nase war; selbst sein Atem schien eher nach Stein zu riechen als nach Wein oder Zwiebeln oder anderen gewöhnlichen Dingen.

»Doktor will dich sehen.« Er rollte die Augen von einer Seite zur ändern. »Sofort, ungefähr.«

Die anderen Küchenjungen warfen neugierige Blicke auf Simon und den massigen Inch, liefen aber ohne Halt weiter. Simon versuchte sich unter der schweren Hand hervorzuwinden und sah verzweifelt zu, wie die anderen verschwanden.

»Also gut. Ich bin gleich da«, antwortete er, wand sich noch einmal und kam frei. »Ich hole mir nur schnell einen Kanten Brot, den ich unterwegs essen kann.« Er trabte den Gang zum Eßraum der Dienstboten hinunter. Als er einen verstohlenen Blick zurückwarf, stand Inch immer noch an derselben Stelle und verfolgte seinen Rückzug mit den ruhigen Augen eines Stiers auf der Wiese.

Als Simon bald darauf mit einem Brotranken und einem keilförmigen Stück leckeren weißen Käses zurückkam, bemerkte er zu seinem Kummer, daß Inch auf ihn gewartet hatte. Unaufgefordert marschierte er auf dem Weg zu Morgenes' Wohnung neben ihm her. Simon bot ihm etwas zu essen an und gab sich Mühe, ihm dabei zuzulächeln, aber Inch glotzte nur gleichgültig und gab keine Antwort.

Als sie über den von ausgetrockneten Wagenspuren durchzogenen offenen Platz des Mittleren Zwingers kamen und sich durch die Herde von Schreibpriestern schlängelten, die sich auf ihrer täglichen Pilgerfahrt zwischen der Staatskanzlei und der Halle der Archive befand, räusperte sich Inch, als wollte er etwas sagen. Simon, der sich in seiner Gegenwart derart unwohl fühlte, daß ihn selbst Schweigen nervös machte, sah erwartungsvoll auf.

»Warum…«, begann Inch endlich, »… warum nimmst du mir meinen Platz weg?« Er wandte seine wächsernen Augen nicht von dem mit Priestern verstopften Pfad vor ihnen ab.

Jetzt war es Simons Herz, das die Eigenschatten von Stein annahm: kalt, schwer und lastend. Dieses Ackertier, das sich für einen Menschen hielt, tat ihm leid, aber er hatte zugleich auch Angst vor ihm.

»Ich … ich habe dir doch deinen Platz nicht weggenommen.« Sogar in seinen eigenen Ohren hatten die abwehrenden Worte einen falschen Klang. »Läßt dich der Doktor nicht weiterhin kommen und sich von dir beim Tragen und Aufbauen von Sachen helfen? Mir bringt er etwas anderes bei, ganz andere Dinge.«

Schweigend setzten sie ihren Weg fort. Endlich kam Morgenes' Wohnung in Sicht, in den alles überwuchernden Efeu geduckt wie das Nest eines kleinen, aber einfallsreichen Tieres. Als sie vielleicht noch zehn Schritte davon entfernt waren, packte Inchs Hand Simons Schulter ein zweites Mal.

»Bevor du kamst«, sagte Inch, und sein breites, rundes Gesicht bewegte sich zu Simon hinunter wie ein Korb, den man von oben aus dem Fenster läßt, »… bevor du kamst, war ich sein Gehilfe. Ich sollte der nächste sein.« Er zog die Stirn in Falten, schob die Unterlippe vor und runzelte den durchgehenden Balken seiner Augenbrauen zu einem steileren Winkel. Seine Augen waren noch immer mild und traurig. »Doktor Inch, das wäre ich geworden.« Er richtete den Blick auf Simon, der halb und halb fürchtete, das Gewicht der Tatze auf seinem Schlüsselbein werde ihn zusammenbrechen lassen. »Ich mag dich nicht, Küchenjunge.«