Inch ließ ihn los und schlurfte davon. Über der Bergkette seiner gebeugten Schultern war der Hinterkopf fast nicht sichtbar. Simon rieb sich den Nacken. Ihm war ein wenig übel.
Morgenes schob gerade ein Trio junger Priester aus seiner Wohnung. Sie waren auffallend – und nach Simons Ansicht einigermaßen ungehörig – betrunken.
»Sie kamen wegen meines Beitrages zum Allernarrenfest«, erläuterte Morgenes, als er die Tür hinter dem Dreigespann schloß, das bereits in unzusammenhängenden Gesang ausgebrochen war.
»Halt mir die Leiter, Simon.«
Auf der obersten Stufe der Leiter balancierte ein Eimer mit roter Farbe. Als der Doktor ihn erreicht hatte, holte er einen Pinsel heraus, der hineingefallen war, und begann sonderbare Zeichen über den Türrahmen zu malen – eckige Symbole, jedes einzelne ein winziges, rätselhaftes Bild. Für Simons Augen sahen sie ein wenig wie die uralte Schrift in einigen von Morgenes' Büchern aus.
»Wozu dient das?« fragte er. Der wild vor sich hin malende Doktor antwortete nicht. Simon nahm die Hand von der Sprosse, um sich am Knöchel zu kratzen, worauf die Leiter sofort drohend zu schwanken begann. Morgenes mußte sich am Türsturz festhalten, um nicht umzukippen.
»Nein, nein, nein!« bellte er und versuchte mühsam, Ebbe und Flut der Farbe daran zu hindern, über den Eimerrand zu schwappen. »Du solltest es besser wissen, Simon. Die Regel lautet: Alle Fragen nur schriftlich! Aber warte, bis ich wieder unten bin – wenn ich abstürze und sterbe, ist keiner mehr da, der dir Antwort gibt.« Morgenes machte sich wieder ans Malen und murmelte dabei leise vor sich hin.
»Entschuldigung, Doktor«, meinte Simon ein wenig ärgerlich, »ich hatte es nur vergessen.«
Einige Minuten vergingen ohne ein anderes Geräusch als das des schnurrenden Streichens von Morgenes' Pinsel.
»Werde ich meine Fragen immer aufschreiben müssen? Ich werde es nie schaffen, so schnell zu schreiben, wie mir Dinge einfallen, über die ich etwas wissen möchte.«
»Das«, erwiderte Morgenes und schielte auf seinen letzten Pinselstrich, »war die Grundidee für diese Vorschrift. Du, Junge, erfindest Fragen, wie Gott Fliegen und arme Leute erschafft – in Schwärmen. Ich bin ein alter Mann und möchte meine Geschwindigkeit lieber selbst bestimmen.«
»Aber«, in Simons Stimme mischte sich Verzweiflung, »dann schreibe ich ja für den Rest meiner Tage!«
»Ich kann mir manche wesentlich weniger wertvolle Beschäftigung vorstellen, mit der du dein Dasein zubringen könntest«, bemerkte Morgenes und krabbelte die Leiter hinunter. Dann drehte er sich um und studierte den Gesamteindruck – einen Bogen aus seltsamen Buchstaben, der sich über dem gesamten Türrahmen ausdehnte. »Zum Beispiel«, fuhr er fort und warf Simon einen scharfen, wissenden Blick zu, »könntest du einen Brief fälschen, um dich Breyugars Wachsoldaten anzuschließen, und dir dann die Zeit damit vertreiben, daß Männer mit Schwertern kleine Stückchen von dir herunterhacken.«
O nein, dachte Simon, erwischt wie eine Ratte in der Falle.
»Das heißt … Ihr habt davon gehört?« fragte er nach einer Weile. Der Doktor nickte, immer noch das verkniffene, zornige Lächeln im Gesicht.
Usires steh mir bei, was er für Augen hat – wie Nadeln! Simon schauderte. Der Blick des Doktors war schlimmer als Rachels Drachenstimme.
Der Doktor beobachtete ihn immer noch. Simon schlug die Augen nieder und brachte es dann endlich heraus, mit einer mürrischen Stimme, die um Jahre jünger klang, als er es gern gewollt hätte:
»Tut mir leid.«
Der Doktor, als hätte man eine Schnur durchschnitten, die ihn fesselte, begann im Zimmer auf und ab zu gehen. »Wenn ich auch nur die geringste Idee gehabt hätte, wozu du diesen Brief benutzen wolltest…«, wütete er. »Was hast du dir bloß dabei gedacht? Und warum, warum mußtest du mir etwas vorlügen?«
Irgendwo im tiefsten Innern freute sich ein Stück von Simon, daß der Doktor sich so aufregte – ein Teil seines Wesens, der es genoß, daß man ihn beachtete. Ein anderer Teil dagegen schämte sich. Und wieder an einer anderen Stelle seines Innenlebens – wie viele Simons gab es dort eigentlich? – saß ein gelassener, interessierter Beobachter, der abwartete, welcher Teil für alle sprechen würde.
Morgenes' Hin- und Herlaufen machte Simon langsam nervös.
»Außerdem«, rief er dem alten Mann zu, »was kümmert es Euch? Es ist mein Leben, oder nicht? Ein blödes Küchenjungenleben! Und sie wollten mich ohnehin nicht haben…«, schloß er undeutlich.
»Und dafür solltest du dankbar sein!« fuhr Morgenes ihn an. »Dankbar, daß sie dich nicht genommen haben. Was ist es denn für ein Leben? In Friedenszeiten in der Kaserne herumhocken und mit unwissenden Tölpeln Würfel spielen; im Krieg zerhackt, von Pfeilen durchbohrt und von Hengsten zertrampelt werden. Du weißt es nicht, du dummer Junge – ein einfacher Fußsoldat zu sein, wenn alle diese hochfahrenden, bauernschindenden Ritter auf dem Schlachtfeld herumtoben, ist nicht besser als bei den Liebfrauentagsspielen den Federball zu machen.« Er machte jäh kehrt und sah Simon ins Gesicht. »Weißt du, was Fengbald und seine Ritter in Falshire getan haben?«
Der Junge antwortete nicht.
»Den ganzen Wollbezirk angesteckt, das haben sie getan! Frauen und Kinder mit den anderen verbrannt, nur weil sie ihre Schafe nicht hergeben wollten. Fengbald ließ die Schafwaschfässer mit heißem Öl füllen und die Anführer der Wollhändlergilde darin zu Tode sieden. Sechshundert von Graf Fengbalds eigenen Untertanen abgeschlachtet, und er marschierte mit seinen Männern singend zur Burg zurück! Und dieser Gesellschaft willst du dich anschließen…«
Simon war jetzt ernstlich erbost. Er fühlte sein Gesicht heiß werden und hatte schreckliche Angst, in Tränen auszubrechen. Der leidenschaftslose Beobachter-Simon war völlig verschwunden. »Na und?« schrie er. »Und wen interessiert das?« Morgenes' sichtliches Erstaunen über den ungewöhnlichen Ausbruch machte ihn noch elender.
»Was soll denn aus mir werden?« fragte er und schlug in ohnmächtiger Wut gegen die Wand. »Es gibt keinen Ruhm in der Spülküche, keinen Ruhm unter den Mägden und keinen Ruhm hier in einem dunklen Zimmer voller … dummer Bücher!«
Die betroffene Miene des alten Mannes sprengte endlich die allzu sehr beanspruchten Deiche; weinend floh Simon ans entgegengesetzte Ende des Zimmers und kauerte sich dort schluchzend auf der Seekiste zusammen, das Gesicht an die kalte Steinwand gepreßt. Irgendwo draußen sangen die drei jungen Priester in zerstreuter, betrunkener Harmonie ihre Hymnen.
Sogleich war der Doktor an Simons Seite und strich dem jungen Mann mit ungeschickter Hand über die Schulter.
»Nun, nun, Junge, nun, nun«, sagte er verwirrt, »was soll dieses Gerede von Ruhm? Hat dich diese Krankheit auch angesteckt? Ein verfluchter blinder Bettler muß ich gewesen sein – ich hätte es sehen sollen. Selbst in dein einfältiges Herz hat das Fieber sich gefressen, ja, Simon? Es tut mir so leid. Man braucht einen starken Willen oder ein geübtes Auge, um durch den Flitter den faulen Kern zu erkennen.«
Simon hatte keine Ahnung, wovon der Doktor redete, aber der Ton von Morgenes' Stimme wirkte besänftigend. Gegen seinen Willen spürte er, wie sein Zorn schwand – aber das darauf folgende Gefühl, das ihm als Schwäche erschien, veranlaßte ihn, sich aufzusetzen und die Hand des Doktors abzuschütteln. Er wischte sich mit dem rauhen Wamsärmel das feuchte Gesicht ab.