»Es ist eine Feder«, erklärte er knapp. Als er das glänzende Ding wieder in sein Gewand versenkte, sah Simon, daß das Kielende der Goldfeder an einer Schriftrolle aus perlweißem Stein befestigt war. »Eine Feder zum Schreiben«, sagte er verwundert, »ein Federkiel, nicht wahr?«
»Also gut, eine Schreibfeder«, knurrte Morgenes. »Wenn du nichts Besseres zu tun hast, als mich über meinen Schmuck auszufragen, dann troll dich! Und vergiß dein Versprechen nicht. Denk daran!«
Als Simon durch die heckengesäumten Hofgärten nach den Dienstbotenquartieren zurückwanderte, grübelte er über die Ereignisse dieses seltsamen Vormittags nach. Der Doktor hatte die Sache mit dem Brief herausgefunden, ihn aber weder bestraft noch endgültig hinausgeworfen. Zugleich hatte er es aber abgelehnt, Simon etwas über Magie beizubringen. Und warum hatte seine Bemerkung über den Federkielanhänger den alten Mann so gereizt?
Nachdenklich zupfte Simon an den dürren, knospenlosen Rosenbüschen und stach sich an einem versteckten Dorn in den Finger. Fluchend hielt er die Hand in die Höhe. Das helle Blut an seiner Fingerspitze war wie eine rote Kugel, eine einzige scharlachrote Perle. Er steckte den Finger in den Mund und schmeckte Salz.
In der dunkelsten Stunde der Nacht, am äußersten Horn des Allernarrentages, hallte ein furchtbarer Donnerschlag durch den Hochhorst. Er schüttelte die Schläfer in den Betten wach und erzeugte in den dunklen Glockentrauben des Grünengel-Turms einen langen, mitfühlenden Ton.
Ein paar junge Priester, die in dieser einzigen Nacht des Jahres, in der sie Freiheit genossen, das Mitternachtsgebet fröhlich beiseite gelassen hatten, warf es von den Schemeln, auf denen sie gesessen, Wein in sich hineingeschüttet und Bischof Domitis verunglimpft hatten. Die Kraft des Schlages war so gewaltig, daß selbst die Betrunkenen die Woge des Grauens fühlten, die sie überschwemmte, als hätten sie an einer versunkenen Stelle ihres tiefsten Inneren schon immer gewußt, daß Gott eines Tages seinen Unwillen kundtun würde.
Aber als die zerzauste, erschreckte Truppe sich im Hof zusammendrängte, um zu sehen, was sich ereignet hatte, geschorene Meßdienerköpfe im seidigen Mondlicht wie bleiche Pilze, da fanden sie keine Zeichen des Weltunterganges, mit dem sie alle gerechnet hatten. Abgesehen von ein paar Gesichtern, die anderen, durch den Schlag aufgeschreckten Burgbewohnern gehörten, die neugierig aus den Fenstern spähten, war die Nacht ungetrübt und klar.
In seinem schmalen Bett hinter dem Vorhang, seinem Nest inmitten der so sorgsam gehorteten Schätze, träumte Simon. Im Traum kletterte er auf eine Säule aus schwarzem Eis, jeder mühevolle Zollbreit aufwärts zunichte gemacht von einem fast gleich weiten Hinunterrutschen. Mit den Zähnen hielt er ein Pergament fest, irgendeine Botschaft. Ganz oben in der kalt brennenden Säule befand sich eine Tür, und im Türrahmen kauerte etwas Dunkles, das auf ihn wartete … auf die Botschaft wartete.
Als er endlich die Schwelle erreicht hatte, schoß schlangenartig eine Hand hervor und riß das Pergament mit tintiger, dunstiger Faust an sich. Simon versuchte zurückzugleiten, sich nach hinten fallen zu lassen, aber aus der Tür schoß eine zweite Klaue und packte sein Handgelenk. Er wurde hochgezerrt, auf ein Paar Augen zu, die rotglühend waren wie zwei purpurgrelle Löcher im Bauch eines schwarzen Höllenofens…
Nach Atem ringend, erwachte er vom Schlaf und vernahm die mürrischen Stimmen der Glocken, die stöhnend ihrem Mißvergnügen Ausdruck gaben und dann wieder in kalten, brütenden Schlummer sanken.
Nur ein Mensch in der ganzen großen Burg behauptete, etwas gesehen zu haben: Caleb der Pferdejunge, Shems Gehilfe, der ein wenig langsam von Verstand war. Er war schrecklich aufgeregt gewesen und hatte die ganze Nacht nicht schlafen können. Am nächsten Morgen sollte er zum Narrenkönig gekrönt und auf den Schultern der jungen Priester getragen werden, die mit ihm durch die Burg marschieren, unzüchtige Lieder singen und mit Hafer und Blütenblättern werfen würden. Danach sollten sie ihn in den Speisesaal bringen, wo er von seinem falschen Thron aus dem Schilf des Gleniwentflusses dem Allernarrenbankett Vorsitzen würde.
Der Pferdebursche erzählte jedem, der ihm zuhören wollte, er hätte nicht nur das große Brüllen vernommen, sondern auch Worte gehört, eine dröhnende Stimme, in einer Sprache, von der Caleb nur sagen konnte, daß sie »böse« war. Er schien sich auch einzubilden, daß er gesehen hätte, wie eine riesige feurige Schlange aus dem Fenster des Hjeldin-Turms herausgesprungen war und sich in flammenden Windungen um den Turm gelegt hatte, um dann schließlich in einem Funkenregen zu vergehen.
Niemand achtete weiter auf Calebs Geschichte – nicht ohne Grund hatte man den einfältigen Jungen zum Narrenkönig gewählt. Außerdem brachte die Morgendämmerung dem Hochhorst etwas, das jeden nächtlichen Donner und sogar die schönen Aussichten des Narrentages in den Hintergrund treten ließ. Das Tageslicht machte eine Wolkenbank sichtbar, die sich am nördlichen Horizont duckte wie eine Herde fetter, grauer Schafe – Regenwolken.
»Bei Drors blutrotem Hammer, Uduns schrecklichem Einauge und … und … und bei unserm Herrn Usires! Es muß etwas geschehen!«
Herzog Isgrimnur, der vor Zorn schier seine ganze ädonitische Frömmigkeit vergaß, schlug mit der narbigen, pelzknochligen Pranke so hart auf die Große Tafel, daß noch sechs Fuß weiter unten das Geschirr einen Satz machte. Sein breiter Körper schwankte wie ein überladenes Schiff im Sturm, als er vom einen Ende der Tafel zum anderen blickte und dann die Faust noch einmal niedersausen ließ. Ein Pokal schwankte kurz hin und her und ergab sich dann der Schwerkraft.
»Es müssen Maßnahmen ergriffen werden, Majestät!« brüllte Isgrimnur und zupfte wütend an seinem gürtellangen Bart. »Die Frostmark ist in einem Zustand verdammter Anarchie! Während ich mit meinen Männern hier herumhocke wie Astknorren an einem Stamm, ist die Frostmarkstraße zum Schleichweg für Räuber geworden. Und ich habe seit über zwei Monaten keine Nachricht aus Elvritshalla!« Der Herzog stieß einen so gewaltigen Atemzug aus, daß sein Schnurrbart flatterte. »Mein Sohn ist in furchtbarer Bedrängnis, und ich kann nichts tun! Wo bleiben Schutz und Sicherheit des Hochkönigs, Herr?«
Rot wie eine Rübe ließ sich der Rimmersmann in seinen Stuhl zurückfallen. Elias hob lässig eine Braue und warf einen Blick auf die anderen Ritter, die rund um den Tisch verstreut saßen und an Zahl von den leeren Stühlen zwischen ihnen weit übertroffen wurden. Die Fackeln in den Halterungen warfen lange, flackernde Schatten auf die hohen Wandteppiche.
»Nun – nachdem unser bejahrter, doch ehrenwerter Herzog seine Meinung kundgetan hat – möchte sich noch jemand seinem Vorbringen anschließen?« Elias spielte mit seinem Goldpokal, den er über die halbmondförmigen Narben im Eichenholz scharren ließ. »Ist noch jemand hier, der das Gefühl hat, der Hochkönig von Osten Ard lasse seine Untertanen im Stich?« Guthwulf, zur Rechten des Königs, grinste hämisch.
Isgrimnur, zutiefst erbost, wollte erneut aufstehen, aber Eolair legte dem alten Herzog beschwichtigend die Hand auf den Arm.
»Majestät«, begann Eolair, »weder Isgrimnur noch einer der anderen, die hier gesprochen haben, klagen Euch in irgendeiner Weise an.« Der Hernystir-Mann legte die Handflächen flach auf den Tisch. »Was wir sagen wollen, ist lediglich, daß wir Euch bitten – Euch anflehen, Herr –, Euch stärker mit den Schwierigkeiten derjenigen Eurer Untertanen zu beschäftigen, die außerhalb Eures Gesichtskreises hier auf dem Hochhorst leben.« Eolair, dem seine eigenen Worte zu hart erscheinen mochten, zauberte ein Lächeln auf seine beweglichen Züge. »Es gibt diese Schwierigkeiten nun einmal«, fuhr er fort. »Überall im Norden und Westen herrscht Gesetzlosigkeit. Hungerleidende Männer schrecken vor fast nichts zurück, und die eben erst zu Ende gegangene Dürre hat die Menschen von ihrer schlimmsten Seite gezeigt … alle Menschen.«