Strupp tastete mit den Händen, bis er den Krug fand, und hob ihn zu einem langen Zug. Seine beiden Zechgenossen hatten die Augen geschlossen und stießen rasselnde Atemgeräusche aus, aber der alte Mann, versunken in empörtes Sinnen, achtete nicht darauf.
»Und dann wollte er seinem armen, toten Vater nicht einmal die Höflichkeit erweisen, es ihm selber ins Grab zu legen. Wollte es … wollte es nicht einmal anfassen! Ließ seinen jüngeren Bruder das machen! Ließ Josua…« Strupps kahler Kopf nickte. »Als ob er sich dran verbrannt hätte … so sah es aus, als er es mir wieder hinhielt … so schnell … verfluchter Welpe…« Strupps Kopf fuhr noch einmal in die Höhe, sank dann auf die Brust und hob sich nicht wieder.
Als Simon leise die Heubodenleiter hinabstieg, schnarchten die drei Männer schon wie alte Hunde vor dem Kamin. Auf Zehenspitzen schlich er sich hinaus – war nur so freundlich, im Vorbeigehen den Krug zuzukorken und beiseite zu stellen, damit kein jäh im Schlaf ausgestreckter Arm das Gefäß umkippte. Dann trat er in das schräge Sonnenlicht des Burgangers.
Soviel Seltsames ist geschehen in diesem Jahr, dachte er, setzte sich an den Brunnen in der Mitte des Angers und warf Steinchen hinein. Dürre und Krankheit, der Prinz verschwunden, in Falshire Menschen verbrannt und getötet … Aber irgendwie schien das alles gar nicht so ernst zu sein. Es passiert immer jemand anderem, entschied Simon, halb erfreut, halb bedauernd. Alles passiert fremden Leuten.
Sie hatte sich auf dem Fenstersitz zusammengekauert und starrte durch die zierlich geätzten Scheiben auf irgend etwas hinunter. Als er eintrat, schaute sie nicht auf, obwohl das Scharren seiner Stiefel auf den Steinplatten ihn deutlich ankündigte. Einen Augenblick verharrte er mit über der Brust gekreuzten Armen in der Tür, aber noch immer drehte sie sich nicht um. Er schritt auf sie zu, blieb stehen und blickte über ihre Schulter.
Auf dem Anger war nichts zu sehen als ein Küchenjunge, der auf dem Rand der steinernen Zisterne saß, ein langbeiniger, zerzauster Junge im fleckigen Kittel. Sonst war der Hof leer bis auf ein paar Schafe, schmutzige Wollbündel, die den dunklen Erdboden nach Stellen mit jungem Gras absuchten.
»Was ist?« fragte er und legte ihr die breite Hand auf die Schulter. »Haßt du mich auf einmal, daß du so ohne ein Wort davonschleichst?«
Sie schüttelte den Kopf, und ein schneller Streifen Sonnenlicht verfing sich im Netz ihres Haares. Ihre Hand stahl sich hinauf zu seiner und umschloß sie mit kühlen Fingern.
»Nein«, antwortete sie und starrte noch immer auf den Anger hinab. »Aber ich hasse, was ich um mich herum sehe.« Er beugte sich zu ihr, aber hastig riß sie die Hand los und schlug sie vor ihr Gesicht, als wollte sie es vor der Nachmittagssonne beschirmen.
»Und was soll das sein?« erkundigte er sich, und eine gewisse Gereiztheit schlich sich in seine Stimme. »Möchtest du lieber wieder nach Meremund und in diesem zugigen Gefängnis von Haus leben, das mein Vater mir gab, dort, wo der Fischgestank noch auf dem höchsten Balkon die Luft vergiftet?« Er griff hinunter und faßte sie am Kinn, das er mit fester Sanftheit drehte, bis er ihre zornigen, tränenfeuchten Augen sehen konnte.
»Ja!« entgegnete sie und schob seine Hand fort, wich jedoch seinem Blick nicht länger aus. »Ja, das möchte ich. Man kann dort auch den Wind riechen und das Meer sehen.«
»O Gott, Mädchen, das Meer? Du bist die Herrin der bekannten Welt und weinst, weil du das verdammte Wasser nicht sehen kannst? Schau! Schau dorthin!« Er deutete über die Wälle des Hochhorstes. »Und was ist dann der Kynslagh?«
Verächtlich gab sie den Blick zurück. »Eine Bucht ist er, eine königliche Bucht, die ergeben darauf wartet, daß der König im Boot darauf herumfährt oder schwimmen geht. Kein König besitzt das Meer.«
»Aha.« Er ließ sich auf ein Sitzkissen fallen, die langen Beine nach beiden Seiten ausgestreckt. »Und hinter all dem steckt vermutlich der Gedanke, daß du auch hier eingesperrt bist, wie? Was für ein Unfug! – Ich weiß, warum du dich so aufregst.«
Sie wandte sich nun ganz vom Fenster ab. Ihr Blick war voller Spannung. »Ihr wißt es?« fragte sie, und unter der Verachtung regte sich ein winziger Hauch Hoffnung. »Dann sagt mir, warum, Vater.«
Elias lachte. »Weil du bald heiraten wirst, darum. Es ist ganz und gar nicht überraschend.« Er rückte näher. »Ach, Miri, du brauchst dich nicht zu fürchten. Fengbald ist ein Prahlhans, aber er ist jung und noch töricht. Wenn eine geduldige Frauenhand ihn leitet, wird er sehr bald Manieren annehmen. Und wenn nicht – nun, er wäre wirklich ein Narr, wenn er die Tochter des Königs nicht gut behandelte.«
Miriamels Gesicht verhärtete sich zu einer Miene der Resignation. »Ihr versteht mich nicht.« Ihre Stimme war ausdruckslos wie die eines Steuereinnehmers. »Fengbald bedeutet mir nicht mehr als ein Felsblock oder ein Schuh. Ihr seid es, um den ich mir Sorgen mache – und Ihr seid es auch, der sich fürchten muß. Warum stellt Ihr Euch so zur Schau? Warum verspottet und bedroht Ihr alte Männer?«
»Verspotten und bedrohen?« Sekundenlang verzog sich Elias' breites Gesicht zu einer häßlichen Grimasse der Wut. »Dieser alte Hurensohn singt ein Lied, das mich mehr oder weniger beschuldigt, meinen Bruder beiseite geschafft zu haben, und du sagst, ich verspottete ihn?« Der König sprang unvermittelt auf und versetzte dem Kissen einen wütenden Fußtritt, der es quer durchs Zimmer fliegen ließ. »Was hätte ich denn zu fürchten?« fragte er gleich darauf.
»Wenn Ihr es nicht wißt, Vater, obwohl Ihr doch soviel Zeit mit dieser roten Schlange und seinen Teufelskünsten verbringt – wenn Ihr nicht selbst fühlt, was vor sich geht…«
»Was in Ädons Namen redest du?« fragte der König hart. »Was weißt denn du?« Er schlug sich klatschend mit der Hand auf den Schenkel. »Nichts! Pryrates ist mein tüchtigster Diener – er tut für mich, was kein anderer kann.«
»Ein Ungeheuer ist er, ein Nekromant!« rief die Prinzessin. »Und Ihr seid im Begriff, sein Werkzeug zu werden, Vater! Was ist aus Euch geworden? Wie habt Ihr Euch verändert!« Miriamel stieß einen Laut der Qual aus und versuchte, das Gesicht in ihrem langen, blauen Schleier zu vergraben. Dann sprang sie auf und rannte auf Samtpantoffelfüßen an ihm vorbei in ihren Schlafraum. Einen Augenblick später hatte sie die schwere Tür hinter sich zugeworfen.
»Verdammt sollen alle Kinder sein!« fluchte Elias. »Miri!« rief er und ging an die Tür, »du verstehst nichts! Du weißt nichts von dem, was der König tun muß. Und du hast kein Recht zum Ungehorsam. Ich habe keinen Sohn! Ich habe keinen Erben! Und ich bin umgeben von ehrgeizigen Männern. Deshalb brauche ich Fengbald. Du wirst mich nicht hindern!« Einen langen Augenblick stand er schweigend da, aber es kam keine Antwort. Er schlug mit der Faust gegen die Tür, daß die Bohlen erbebten.
»Miriamel! Mach sofort auf!« Als Erwiderung nur Stille. »Tochter«, sagte er endlich und senkte den Kopf, bis er das unnachgiebige Holz berührte, »schenk mir nur einen Erben, und ich gebe dir Meremund. Ich werde dafür sorgen, daß Fengbald dich in Ruhe läßt. Du kannst den Rest deines Lebens damit zubringen, aufs Meer hinauszustarren.« Er hob die Hand und wischte sich etwas vom Gesicht. »Ich sehe das Meer nicht gern … es erinnert mich an deine Mutter.«
Noch einmal schlug er gegen die Tür. Das Echo blühte auf und verwelkte. »Ich liebe dich, Miri«, sagte der König leise.