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Das Türmchen an der Ecke der Westmauer hatte das erste Stück aus der Nachmittagssonne herausgebissen. Ein weiterer Kiesel klapperte in die Zisterne und folgte Hunderten seiner Gefährten in die Vergessenheit. Ich habe Hunger, entschied Simon endlich.

Es wäre kein schlechter Gedanke, überlegte er, jetzt in die Anrichteküche hinüberzuschlendern und von Judith etwas zu essen zu erbetteln. Ihm wurde bewußt, daß er seit dem frühen Morgen nichts zu sich genommen hatte. Abendessen würde es erst in mindestens einer Stunde geben. Das einzige Problem war, daß Rachel und ihr Geschwader gerade dabei waren, den langen Speisesaalkorridor und die darunterliegenden Zimmer sauberzumachen, die letzte Schlacht in Rachels aufreibendem Frühjahrsfeldzug. Auf jeden Fall war es besser, den Drachen soweit möglich zu umgehen und mit ihm alles, was Rachel über das Schnorren von Speisen vor dem Abendbrot zu bemerken haben könnte.

Nachdem er kurz nachgedacht und dabei drei weitere Steine mit Tick-Tack-Tick in den Brunnen hinuntergeschickt hatte, kam Simon zu dem Ergebnis, daß es sicherer wäre, sich unter dem Drachen hindurchzuschleichen, als ihn in großem Bogen zu umgehen. Der Speisesaal erstreckte sich über die ganze Länge des oberen Geschosses entlang der Seemauer des Hauptturmes der Burg; es würde sehr lange dauern, den Weg über die Kanzlei zu nehmen, um dann auf der anderen Seite bei den Küchen herauszukommen. Nein, die einzig mögliche Route führte durch die Vorratskammern.

Er riskierte einen schnellen Satz über den Burghof zum Westportikus des Speisesaales und schaffte es, unbemerkt hindurchzuschlüpfen. Eine Welle von Seifenwassergeruch und das ferne Klatschen der Schrubber beschleunigten seine Schritte, als er in das abgedunkelte Untergeschoß und die Räume mit den Vorratslagern hinabtauchte, die den größten Teil der Fläche unter den Speisesälen einnahmen.

Da der Fußboden hier gute sechs oder sieben Ellen unter der Höhe der Inneren Zwingermauern lag, drang nur ein ganz schwacher Schein reflektierten Lichtes durch die Fenster. Die tiefen Schatten beruhigten Simon. Weil hier soviel Brennbares lagerte, kamen so gut wie nie Fackeln in die Räume; es bestand nur eine äußerst geringe Wahrscheinlichkeit, daß man ihn entdeckte.

In dem großen Mittelraum waren zahllose Fässer und Fäßchen, mit Eisenbändern zusammengeschmiedet, bis zur Decke gestapelt; eine unbestimmte Landschaft aus rundlichen Türmen und schmalen Durchgängen. Die Fässer konnten alles mögliche enthalten: Trockengemüse, Käselaibe, Tuchballen aus längst vergangenen Jahren, selbst Ritterrüstungen, die wie glänzende Fische in mitternachtsdunklem Öl schwammen. Die Versuchung, ein paar von ihnen zu öffnen und nachzusehen, welche heimlichen Schätze darin verborgen lagen, war ungemein groß, aber Simon besaß kein Brecheisen, um die schweren, festgenagelten Faßdeckel aufzustemmen, und wagte auch nicht, besonderen Lärm zu machen, denn unmittelbar über ihm wischten der Drache und seine Legionen Staub und putzten herum wie die Scheuerfrauen der Verdammten.

Auf halbem Weg durch den langen, düsteren Raum, auf seinem schmalen Pfad zwischen den Faßtürmen, die vorkragten wie die Strebepfeiler eines Domes, wäre Simon um ein Haar in ein Loch gefallen, hinunter in die undurchdringliche Finsternis.

Als er überrascht und mit klopfendem Herzen zurücksprang, erkannte er schnell, daß es nicht irgendein Loch war, das da vor ihm im Fußboden gähnte, sondern vielmehr eine geöffnete und zurückgeklappte Falltür. Mit einiger Vorsicht konnte er sie umgehen, obwohl der Weg sehr schmal war. Aber warum stand die Tür offen? Schwere Falltüren sprangen nicht von allein auf, soviel war klar. Wahrscheinlich hatte eine der Haushälterinnen etwas aus einem noch tiefer gelegenen Lagerraum geholt und dann nicht gleichzeitig ihre Last tragen und die Tür wieder schließen können.

Nur einen Augenblick zögerte Simon, dann kletterte er die Leiter hinunter, die aus der Einstiegsöffnung ragte. Was mochten in dem Raum dort unten für seltsame und aufregende Dinge verborgen sein?

Unten war es dunkler als oben, und zuerst konnte er überhaupt nichts erkennen. Sein tastender Fuß trat auf etwas, und als er vorsichtig das Gewicht darauf verlagerte, erwies es sich als ein vertrautes Dielenbrett. Als er aber den anderen Fuß von der Leiter nahm, stieß er auf keinerlei Widerstand, und nur sein fester Griff um die Leitersprosse bewahrte ihn davor, das Gleichgewicht zu verlieren und abzustürzen: Unter der Leiter befand sich eine zweite Luke, die zu einem noch tiefer liegenden Geschoß führte. Er manövrierte mit dem baumelnden Fuß, bis er den Rand der unteren Luke fand, und ließ sich dann auf die Sicherheit des Fußbodens dieses mittleren Raumes hinunter.

Die Lukenöffnung über ihm war ein graues Viereck in der Wand von Dunkelheit. Im schwachen Licht sah er enttäuscht, daß die Kammer, in der er stand, kaum größer war als ein Wandschrank; die Decke schien weit niedriger als im oberen Raum, und die Wände waren von der Stelle, an der er stand, nur wenige Armlängen entfernt. Der kleine Raum war bis an die Deckenbalken mit Fässern und Säcken vollgestopft, und nur ein schmaler Mittelgang, der bis an die hintere Wand reichte, trennte die sich oben schräg aneinanderlehnenden Vorratsbehälter.

Während sich Simon ohne großes Interesse umsah, knackte irgendwo eine Diele, und in der Schwärze unter sich hörte er das Geräusch bedächtiger Schritte.

O mein Gott, wer mag das sein? Was habe ich jetzt wieder angestellt?

Wie dumm von ihm, nicht daran zu denken, daß die Falltür vielleicht deshalb offen stand, weil sich jemand in den darunterliegenden Räumen aufhielt! Schon wieder hatte er sich benommen wie ein Tölpel. Sich innerlich verfluchend, glitt er in den schmalen Gang zwischen den Vorratsbehältern. Die Schritte unten näherten sich der Leiter. Simon zwängte sich rückwärts in eine Lücke zwischen zwei muffigen Stoffsäcken, die rochen und sich anfühlten, als seien sie voll alter Wäsche. Als ihm klar wurde, daß jemand, der nur einen Schritt von der Luke weg in den Durchgang trat, ihn trotzdem bemerken würde, sank er halb in die Hocke und verlagerte sein Gewicht vorsichtig auf eine Truhe aus Eichenbrettern. Die Schritte hatten die Leiter erreicht, und die Sprossen fingen an zu knarren – jemand kletterte nach oben. Simon hielt den Atem an. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, warum er auf einmal solche Angst hatte; wenn man ihn erwischte, würde es ihm lediglich ein paar Strafen mehr und zusätzliche scharfe Blicke von Rachel eintragen – warum fühlte er sich dann wie ein Kaninchen, das die Jagdhunde gewittert haben?

Das Klettergeräusch setzte sich fort, und sekundenlang schien es, als wollte der Heraufkommende direkt in den großen Raum ganz oben weitersteigen … bis das stetige Knarren aufhörte. In Simons Ohren sang die Stille. Ein Geräusch, dann noch eines – mit einem dumpfen Gefühl im Magen erkannte er, daß die unsichtbare Gestalt wieder abwärts stieg und von der Leiter herunter auf den Boden des Wandschranks trat. Dann herrschte erneut Schweigen; jetzt aber schien die Stille selbst zu pochen. In dem schmalen Gang näherte sich der langsame Schritt, bis er unmittelbar vor Simons hastig gewähltem Versteck zum Halten kam. Im trüben Licht erkannte der Junge spitze schwarze Stiefel, fast zum Greifen nah; darüber hing der schwarz eingefaßte Saum eines scharlachroten Gewandes. Es war Pryrates.

Simon duckte sich tiefer in die Vorräte und betete, Ädon möge sein Herz anhalten, das zu schlagen schien wie Donner. Er fühlte, wie sein Blick gegen seinen Willen nach oben gezogen wurde, bis er zwischen den hängenden Schultern der Säcke, die ihn verbargen, hinausstarrte. Durch den schmalen Spalt konnte er das ausdruckslose Gesicht des Alchimisten sehen; einen Augenblick war ihm, als schaute ihm Pryrates direkt in die Augen, und fast hätte er vor Entsetzen aufgejault. Gleich darauf begriff er, daß es nicht so war; die im Schatten liegenden Augen des roten Priesters waren auf die Wand über Simons Kopf gerichtet. Er lauschte.