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Komm her.

Pryrates' Lippen hatten sich nicht bewegt, aber Simon hörte die Stimme so deutlich, als hätte sie ihm ins Ohr geflüstert.

Komm her. Sofort!

Die Stimme war fest, aber nicht unvernünftig. Simon merkte, daß er sich über sein Benehmen schämte; es gab nichts zu befürchten; kindische Torheit, sich hier in der Finsternis zusammenzukauern, wenn er doch aufstehen und den kleinen Scherz zugeben konnte, den er sich erlaubt hatte …

Wo bist du? Zeig dich!

Gerade als die ruhige Stimme in seinem Ohr ihn überzeugt hatte, daß es nichts Einfacheres gäbe, als aufzustehen und zu sprechen – er wollte eben nach den Säcken greifen, um sich aufzurichten –, schweiften Pryrates' schwarze Augen sekundenlang über den dunklen Spalt, aus dem Simon hervorspähte, und der Blick, der ihn streifte, tötete jeden Gedanken an ein Sich-Zeigen, wie jäher Frost eine Rosenblüte welken läßt. Pryrates' Blick berührte Simons verborgene Augen, und im Herzen des Jungen öffnete sich eine Tür, auf deren Schwelle der Schatten der Vernichtung stand.

Das hier war der Tod – Simon wußte es. Unter seinen kratzenden Fingern fühlte er das kalte Bröckeln von Grabeserde, das Gewicht dunklen, feuchten Bodens auf Mund und Augen. Auf einmal gab es keine Worte mehr, keine leidenschaftslose Stimme in seinem Kopf, nur ein Ziehen – etwas, das sich nicht greifen ließ, ihn aber zu sich zog, Zollbruchteil um Zollbruchteil. Ein Wurm aus Eis umklammerte sein Herz, während er dagegen ankämpfte – dort wartete der Tod, sein Tod. Wenn er nur einen Laut von sich gab, das winzigste Zittern oder Keuchen, würde er die Sonne nie wiedersehen. Er schloß die Augen so fest, daß ihm die Schläfen wehtaten; er verschloß trotz der quälenden Atemnot Zähne und Zunge. Die Stille zischte und hämmerte. Der Zug wurde stärker. Simon fühlte sich, als sinke er langsam in die erdrückenden Tiefen der See hinab.

Einem plötzlichen Aufjaulen folgte ein erschreckter Fluch von Pryrates. Der ungreifbare Würgegriff war verschwunden; Simons Augen sprangen auf, und er sah gerade noch ein schlankes, graues Wesen vorüberhuschen, über Pryrates' Stiefel springen und mit einem Satz die Luke hinab- und in die Dunkelheit hüpfen. Das verblüffte Lachen des Priesters schnarrte durch den vollgestopften Raum und hallte dumpf von den Wänden wider.

»Eine Katze!«

Nach einer Pause von einem halben Dutzend Herzschlägen machten die schwarzen Stiefel kehrt und bewegten sich wieder den Gang entlang. Wenig später hörte Simon die Leitersprossen knarren. Er blieb – noch immer erstarrt – sitzen, sein Atem ging flach, alle Sinne waren in höchster Alarmbereitschaft. Kalter Schweiß rann ihm in die Augen, aber er hob keine Hand, um ihn abzuwischen.

Endlich, nachdem viele Minuten vergangen und die Leitergeräusche verstummt waren, wagte sich Simon zwischen den schützenden Säcken hervor, schwankend, auf schwachen, zitternden Beinen. Preis Usires und Segen über die kleine Ratzenkatze! Aber was nun? Er hatte gehört, wie sich der Deckel der oberen Falltür schloß und über ihm Schritte ertönten, aber das hieß nicht, daß Pryrates wirklich fortgegangen war. Es bedeutete ein Risiko, die schwere Tür anzuheben und sich umzusehen; wenn sich der Priester noch im Lagerraum befand, würde er es höchstwahrscheinlich hören. Wie sollte Simon hinauskommen?

Er wußte, daß er am besten blieb, wo er war und in der Dunkelheit abwartete. Selbst wenn sich der Alchimist noch im oberen Raum aufhielt, mußte er doch irgendwann mit seiner Tätigkeit dort fertig sein und fortgehen. Es schien das bei weitem Vernünftigste, aber etwas in Simon sträubte sich dagegen. Es war eine Sache, Angst zu haben – und Pryrates hatte ihm eine derartige Angst eingejagt, daß er fast den Verstand verloren hätte –, und es war eine andere Sache, den ganzen Abend eingesperrt in einer dunklen Kammer zu verbringen und die darauf stehenden Strafen zu erleiden, wo doch der Priester so gut wie mit Gewißheit auf dem Weg zu seinem Horst im Hjeldin-Turm war.

Außerdem glaube ich nicht, daß er mich wirklich zum Herauskommen gebracht hätte … oder doch? Wahrscheinlich hatte ich einfach nur so eine wahnsinnige Angst…

Ihm fiel der Hund mit dem gebrochenen Rückgrat ein. Simon würgte und brachte lange Minuten damit zu, tiefe Atemzüge zu tun.

Und was war mit der Katze, die ihn vor dem Erwischtwerden gerettet hatte – vor dem Gefangenwerden; das Bild von Pryrates' abgrundschwarzen Augen ließ ihn nicht los: Das war keine Angstphantasie! Wohin war die Katze gelaufen? Wenn sie nach unten in das tiefere Stockwerk gesprungen war, konnte sie bestimmt nicht wieder nach draußen und würde ohne Simons Hilfe elendig umkommen. Eine Ehrenschuld.

Als er sich leise fortbewegte, bemerkte er ein unbestimmtes Glühen, das aus der Bodenluke drang. Brannte dort unten eine Fackel? Oder gab es vielleicht doch noch einen anderen Weg hinaus, eine Tür, die auf einen der unteren Zwinger hinausführte?

Simon horchte eine Weile lautlos an der offenen Luke, um sicherzugehen, daß ihn diesmal niemand überraschte. Dann trat er vorsichtig auf die Leiter und stieg nach unten. Ein kalter Luftzug blähte sein Wams und überzog seine Arme mit Gänsehaut; er biß sich auf die Lippen und zögerte. Schließlich kletterte er weiter.

Statt wie beim ersten Mal von einem weiteren Absatz unterbrochen zu werden, dauerte Simons vorsichtiger Abstieg dieses Mal länger. Zuerst kam das einzige Licht von direkt unter ihm, als klettere er in einen Flaschenhals hinein, dann wurde es insgesamt heller, und bald stieß sein nach unten tastendes Erkunden auf Widerstand: An einer Seite der Leiter berührten seine Zehen Holz – er hatte den Boden erreicht.

Als Simon von der Leiter trat, sah er, daß keine weitere Luke nach unten führte und die unterste Leitersprosse auf dem Boden ruhte. Die einzige Lichtquelle des Raumes und, nachdem jetzt die oberste Falltür verschlossen war, die einzige Beleuchtung überhaupt, war ein seltsames, glühendes Rechteck, das ihm gegenüber an der Wand schimmerte, eine verschwommene Tür, die in gelblichem Flackerlicht auf die Mauer gemalt zu sein schien.

Abergläubisch machte Simon das Zeichen des Baumes und schaute sich um. Der Raum war im übrigen leer bis auf einen zerbrochenen Turnier-Schwenkbalken und ein paar andere Stücke ausrangierten Turnierzubehörs. Die verlängerten Schatten des Raumes ließen viele Ecken dunkel. Simon konnte nichts entdecken, das für einen Mann wie Pryrates von Interesse hätte sein können. Er trat näher an das schimmernde Muster auf der Wand heran und hielt dabei die Hände ausgestreckt, fünffingrige, bernsteinumrahmte Silhouetten. Jäh flammte das glühende Rechteck auf, um dann schnell zu verblassen. Ein Leichentuch völliger Schwärze senkte sich über alles.

Simon war allein in der Finsternis, kein Laut außer dem Dröhnen seines Blutes in den Ohren, das klang wie ein ferner Ozean. Er machte einen vorsichtigen Schritt nach vorn, und das Geräusch seines am Boden scharrenden Schuhs füllte sekundenlang die Leere. Ein zweiter Schritt und noch einer – seine ausgestreckten Finger fühlten kalten Stein … und noch etwas: merkwürdige, schwache Wärmelinien. Er sank vor der Mauer in die Knie.

Jetzt weiß ich, wie man sich ganz unten in einem Brunnen fühlt. Hoffentlich wirft wenigstens niemand Steine auf mich herunter.

Während er noch so dasaß und überlegte, was er als nächstes anfangen sollte, vernahm er ein schwaches Wispern. Gleich darauf stieß ihn etwas gegen die Brust, und ihm entfuhr ein Ruf der Überraschung. Bei seinem Aufschrei verschwand die Berührung, war jedoch sogleich wieder da. Etwas stupste sanft an sein Wams und schnurrte.

»Katze!« flüsterte er.

Du hast mich gerettet, weißt du. Simon streichelte das unsichtbare Wesen. Komm, schon langsam. Man kann ja kaum ein Ende vom anderen unterscheiden, wenn du dich so windest. Jawohl, du hast mich gerettet, und ich werde dich aus diesem Loch herausholen, in das du geraten bist.