»Natürlich stecke ich im selben Loch«, sagte Simon laut. Er hob das pelzige Geschöpf auf und verstaute es in seinem Wams. Das Schnurren der Katze wurde tiefer im Ton, und sie machte es sich auf seinem warmen Bauch bequem. »Ich weiß, was das glühende Ding war«, sagte er ganz leise. »Eine Tür. Eine magische Tür.«
Allerdings gehörte diese magische Tür Pryrates, und Morgenes würde ihm das Fell über die Ohren ziehen, weil er auch nur in ihre Nähe gekommen war. Aber Simon empfand eine gewisse verstockte Entrüstung: Schließlich war das hier auch seine Burg, und die Vorratskammern gehörten keinem Emporkömmling von Priester, so furchteinflößend er auch sein mochte. Auf jeden Fall, wenn er die Leiter hinaufkletterte und Pryrates noch dort war … selbst Simons wieder erwachender Stolz ließ nicht zu, daß er sich Illusionen über das machte, was dann geschehen würde. Also hieß es, entweder den ganzen Abend am Boden eines pechschwarzen Lochs hockenzubleiben, oder …
Er preßte die flache Handfläche an die Wand und ließ sie über die kühlen Steine gleiten, bis er die Wärmestreifen wiederfand. Er folgte ihnen mit den Fingern und erkannte, daß sie in etwa dem rechteckigen Umriß entsprachen, den er zuerst gesehen hatte. Er legte beide Hände flach auf die Mitte und drückte, begegnete jedoch nur dem ungerührten Widerstand mörtellosen Steins. Wieder drückte er, so fest er konnte; auch jetzt geschah nichts. Als er sich keuchend an die Mauer lehnte, fühlte er, wie selbst die warmen Stellen unter seinen Händen erkalteten. Eine plötzliche Vision von Pryrates – der Priester, oben in der Dunkelheit lauernd wie eine Spinne, ein breites Grinsen im knochigen Gesicht – ließ Simons Herz hämmern.
»O Elysia, Mutter Gottes, mach auf!« murmelte er ohne Hoffnung, die Handflächen vor Angstschweiß glitschig. »Mach doch auf!«
Der Stein wurde plötzlich warm, dann so heiß, daß Simon loslassen mußte. Auf der Wand bildete sich eine dünne goldene Linie, die wie ein Bach aus geschmolzenem Metall waagerecht dahinfloß, dann an zwei Enden nach unten rann und sich unten wieder vereinigte. Die Tür war da und schimmerte, und Simon brauchte nur die Hand zu heben und sie mit dem Finger zu berühren, und schon leuchteten die Linien heller; ja, es zeigten sich Spalten parallel zum Umriß der Tür. Vorsichtig griff er mit den Fingern nach einer Ecke und zog. Lautlos schwang eine Steintür auf und erfüllte den Raum mit Licht.
Es dauerte einen Moment, bis seine Augen sich an die gleißende Flut gewöhnt hatten. Hinter der Tür führte ein steinerner Gang abwärts und verschwand um eine Ecke. Er war unmittelbar in den rauhen Fels der Burg gehauen. Gleich hinter der Tür brannte in einem Wandhalter hell eine Fackel. Es war ihr Licht, das ihn so geblendet hatte. Simon stand auf, die Katze in seinem Hemd eine angenehme Last.
Hätte Pryrates eine Fackel brennen lassen, wenn er nicht vorhatte, wiederzukommen? Und was war das für ein seltsamer Gang? Der junge Mann erinnerte sich, daß Morgenes etwas von alten Sithi-Ruinen unter der Burg erzählt hatte. Dieses Mauerwerk hier war ganz bestimmt alt, aber grob und roh, ganz anders als die verfeinerte Eleganz des Grünengel-Turms. Simon beschloß, sich schnell einmal umzusehen. Wenn der Gang nicht weiterführte, würde er wohl doch die Leiter hinaufklettern müssen.
Die rauhen Steinwände des Tunnels waren feucht. Als Simon den Gang hinuntertrottete, konnte er selbst durch den Fels ein dumpfes, dröhnendes Geräusch hören.
Ich muß mich unterhalb des Kynslaghspiegels befinden. Kein Wunder, daß die Steine und sogar die Luft so feucht sind. Er fühlte, wie Wasser, als wollte es seine Gedanken noch unterstreichen, in die Nähte seiner Schuhe drang.
Wieder machte der Gang eine Biegung. Er führte immer noch abwärts. Das schwächer werdende Licht der Fackel am Eingang wurde durch eine neue Lichtquelle ersetzt. Als Simon um die nächste Ecke bog, wurde der Boden ebener und erweiterte sich, bis er nach etwa zehn Schritten vor einer Mauer aus unbehauenem Granit endete. Hier flackerte eine weitere Fackel in ihrem Ring.
Links in der Wand gähnten zwei dunkle Löcher; am Ende, gerade hinter ihnen, schien es noch eine Tür zu geben, die fast unmittelbar neben dem Ende des Ganges lag. Wasser spritzte um Simons Schuhspitzen, als er weiterging.
Die beiden Löcher schienen einmal Zimmer gewesen zu sein – höchstwahrscheinlich Zellen –, nun aber hingen zersplitterte Türen träge in den Angeln; das sprühende Fackellicht enthüllte im Inneren nichts als Schatten. Ein feuchter Verwesungsgeruch drang aus diesen unbewohnten Räumen; Simon beeilte sich, an ihnen vorbeizukommen. Vor der Tür ganz hinten blieb er stehen. Die Katze in seinem Wams piekte ihn mit zarten Krallen, als er im unsicheren Licht nach den schweren Bohlen spähte. Was mochte dahinter liegen? Noch eine modrige Kammer, oder ein Gang, der noch weiter in den vom See zerfressenen Stein führte? Oder vielleicht Pryrates' geheime Schatzkammer, vor allen Späherblicken sicher … oder doch vor fast allen?
In der oberen Mitte der Tür war eine Metallplatte befestigt. Simon konnte nicht erkennen, ob es sich dabei um ein Schloß oder die Abdeckung eines Gucklochs handelte. Als er es zu öffnen versuchte, wollte das Metall sich nicht bewegen und hinterließ Rostflecke auf seinen Fingern. Er blickte sich um und sah neben der offenen Tür zu seiner Linken ein abgebrochenes Stück Türangel liegen. Er hob es auf und stemmte es unter das Metall, bis sich die Platte unter widerwilligem Quietschen an einem von Rost und Salz starrgewordenen Scharnier nach oben hob. Noch einen schnellen Blick zurück und einen Moment schweigenden Lauschens auf Schritte, dann beugte Simon sich vor und legte das Auge an das Loch in der Tür.
Zu seiner großen Überraschung brannte in einer Wandhalterung des dahinterliegenden Raumes eine Handvoll Binsen. Aber jeder berauschende und schreckenerregende Gedanke daran, Pryrates' geheimen Hort gefunden zu haben, verging sofort beim Anblick des feuchten, mit Stroh bedeckten Bodens und der kahlen Wände. Aber da war etwas … hinten im Raum … ein dunkles Schattenbündel.
Ein klirrender Laut ließ Simon überrascht herumfahren. Überwältigt von Furcht blickte er sich verzweifelt um und erwartete jeden Augenblick das Stampfen schwerer Stiefel im Gang zu vernehmen. Nochmals ertönte das Geräusch, und Simon begriff erstaunt, daß es aus dem Raum hinter der Tür kam. Wieder legte er das Auge vorsichtig an das Loch und starrte ins Dunkel. Hinten an der Wand bewegte sich das Schattenbündel; und als es langsam zur Seite schwankte, hallte von neuem das harte, metallische Rasseln in dem kleinen Raum wider. Die Schattengestalt hob den Kopf.
Simon würgte und sprang mit einem Satz von dem Guckloch zurück, als hätte man ihn mitten ins Gesicht geschlagen. In einem schwindligen Moment fühlte er den festen Boden unter seinen Füßen wanken. Ihm war, als hätte er etwas Vertrautes umgedreht und madenwimmelnde Fäulnis darunter entdeckt.
Das angekettete Etwas, das ihn da von innen angestarrt hatte … das Etwas mit den gespenstischen Augen … war Prinz Josua.
XII
Sechs silberne Sperlinge
Simon taumelte über den Angerhof. In seinem Kopf schrien die Gedanken wie eine gewaltige Menschenmenge. Er wollte sich verstecken. Er wollte davonlaufen. Er wollte die entsetzliche Wahrheit herausbrüllen und dann lachen, damit die Burgbewohner stolpernd und sich überschlagend aus den Türen gestürzt kamen. Wie sicher sie doch immer waren, ihrer Sache so sicher, wie sie Vermutungen anstellten und klatschten – und nichts wußten! Nichts! Simon wollte laut losheulen und Gegenstände umwerfen, aber er konnte sein Herz nicht vom Bann der Furcht befreien, den Pryrates' Aasvogelaugen über ihn geworfen hatten. Was sollte er tun? Wer würde ihm helfen, die Welt wieder ins Lot zu bringen?
Morgenes.
Noch während Simon mit schlotternden Gliedern über die dämmrigen Burghöfe rannte, erschien vor seinem geistigen Auge das ruhige, fragende Gesicht des Doktors und verdrängte die tödlichen Züge des Priesters und den angeketteten Schatten dort unten im Verlies. Ohne es recht wahrzunehmen, floh er an dem ebenfalls angeketteten, schwarzgestrichenen Tor des Hjeldin-Turms vorbei und die Stufen zur Staatskanzlei hinauf. In wenigen Sekunden hatte er die langen Korridore durchquert und die Tür zum verbotenen Grünengel-Turm aufgerissen. So heftig trieb es ihn nach der Wohnung des Doktors, daß er dem Küster Barnabas, falls dieser auf ihn gewartet hätte, um ihn zu fangen, unter den Händen zerronnen wäre wie Quecksilber. Ein brausender Wind durchfuhr ihn, erfüllte ihn mit wilder Hast, jagte ihn weiter. Noch bevor die Seitentür des Turms hinter ihm ins Schloß fiel, war er schon an der Zugbrücke; Sekunden später hämmerte er an Morgenes' Tür. Ein paar Wachen der Erkyngarde sahen gleichgültig auf und widmeten sich dann wieder ihrem Würfelspiel.