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»Doktor! Doktor!« schrie Simon und donnerte auf die Tür ein wie ein wahnsinnig gewordener Küfer. Gleich darauf erschien der alte Mann, mit nackten Füßen, Alarm in den Augen.

»Bei den Hörnern des schnaubenden Cryunnos, Junge! Bist du verrückt? Hast du Hummeln gefressen?«

Ohne ein Wort der Erklärung drängte Simon sich an Morgenes vorbei und rannte den Gang entlang. Vor der inneren Tür blieb er keuchend stehen. Der kleine Mann folgte ihm. Nachdem er ihn einen Augenblick scharf und prüfend gemustert hatte, ließ er Simon eintreten.

Kaum hatte sich die Tür hinter den beiden geschlossen, als Simon die Geschichte seiner Expedition und ihrer Ergebnisse hervorzusprudeln begann. Der Doktor schürte umständlich ein kleines Feuer und goß einen Krug Würzwein zum Wärmen in einen Topf. Während er sich so betätigte, hörte er Simons Bericht zu und stocherte ab und zu mit einer Frage im Redefluß des Jungen wie ein Mann, der einen Stock in einen Bärenkäfig hält. Mit grimmigem Kopfschütteln reichte er Simon einen Becher mit dem Glühwein und setzte sich dann mit seinem eigenen Becher in einen zerkratzten, hochlehnigen Sessel. Er hatte Pantoffel über die dünnen, weißen Füße gezogen und hockte nun mit übereinandergeschlägenen Beinen auf dem Stuhlkissen. Das graue Gewand war ihm über die knochigen Schienbeine hinaufgerutscht.

»… und ich weiß, daß ich keine magischen Türen anfassen soll, Doktor, ich weiß es, aber ich habe es eben getan, und es war Josua! Es tut mir leid, ich bringe alles durcheinander, doch ich weiß ganz genau, daß ich ihn gesehen habe! Er hatte einen Bart, glaube ich, und sah fürchterlich aus … aber er war es!«

Morgenes nippte an seinem Wein und betupfte sich mit dem langen Ärmel den Kinnbart. »Ich glaube dir, Junge«, antwortete er. »Das Gegenteil wäre mir lieber, aber auf eine ganz üble Art ergibt das alles einen Sinn. Es bestätigt eine seltsame Nachricht, die ich erhalten habe.«

»Aber was machen wir jetzt?« Simon brüllte beinahe. »Er stirbt! Hat ihm Elias das angetan? Weiß der König davon?«

»Das kann ich wirklich nicht sagen – jedenfalls steht fest, daß Pryrates es weiß.« Der Doktor stellte den Weinbecher hin und erhob sich. Hinter seinem Kopf rötete der letzte Schein der Abendsonne die schmalen Fenster. »Aber was wir jetzt machen, kann ich dir sagen: Für dich heißt es jetzt, zum Abendessen zu gehen.«

»Abendessen?« Simon verschluckte sich und kleckerte Würzwein auf sein Wams. »Wo Prinz Josua…«

»Jawohl, mein Junge, genau das. Im Augenblick können wir gar nichts unternehmen, und ich muß nachdenken. Wenn du das Abendessen versäumst, wird es lediglich einen Aufstand geben – wenn auch nur einen ganz kleinen –, und das würde genau zu dem beitragen, was wir nicht wollen, nämlich die Aufmerksamkeit auf uns lenken. Nein, geh jetzt und iß zu Abend … und halt den Mund zwischen den einzelnen Bissen, ja?«

Die Mahlzeit schien so langsam vorüberzugehen wie die Schneeschmelze im Frühjahr. Eingekeilt zwischen geräuschvoll kauenden Küchenjungen, mit einem Herzen, das doppelt so schnell schlug wie sonst, widerstand Simon dem wilden Drang, mit der Faust auf den Tisch zu schlagen und Becher und Geschirr auf den binsenbestreuten Fußboden zu schmettern und tanzen zu lassen. Die Belanglosigkeit der Unterhaltung reizte ihn unerträglich, und der Kartoffelauflauf mit Fleisch, den Judith extra zum Belthainn-Abend gebacken hatte, lag ihm ohne jeden Geschmack und unzerkaubar wie Holz im Mund.

Rachel sah von ihrem Platz am Kopfende des Tisches mißbilligend zu, wie er unruhig hin und her rutschte. Als Simon so lange stillgesessen hatte, wie es ihm überhaupt möglich war, und dann aufsprang, um sich zu entschuldigen, folgte sie ihm zur Tür.

»Entschuldige bitte, Rachel, aber ich habe es furchtbar eilig!« sagte er und hoffte so, die Lektion, die sie ihm offensichtlich gleich erteilen wollte, abzuwenden. »Doktor Morgenes hat etwas sehr Wichtiges, bei dem ich ihm helfen soll. Bitte!«

Einen Augenblick sah der Drache aus, als wolle sie ihn mit jenem gräßlichen Griff am Ohr packen und gewaltsam an den Tisch zurückbefördern, aber irgend etwas in seinem Gesicht oder seinem Tonfall berührte sie; fast hätte sie gelächelt.

»Na gut, ausnahmsweise – aber du bedankst dich zuvor bei Judith für das schöne Stück Auflauf, bevor du gehst. Sie hat den ganzen Nachmittag daran gearbeitet.«

Simon rannte zu Judith hinüber, die sich an ihrem eigenen Tisch aufgebaut hatte wie ein gewaltiges Zelt. Als er ihre Mühen pries, erröteten ihre runden Wangen lieblich. Bei seinem eiligen Rückzug zur Tür beugte Rachel sich vor und schnappte ihn am Ärmel. Er hielt an und drehte sich um, den Mund bereits zu einer Beschwerde geöffnet, aber Rachel erklärte nur: »Nun beruhige dich erst einmal und paß auf dich auf, du Mondkalbjunge. Es gibt nichts, das so wichtig ist, daß man sich umbringt, um es zu erreichen.« Sie gab ihm einen Klaps auf den Arm und ließ ihn frei; noch während sie ihm nachsah, war er zur Tür hinaus und fort.

Bis Simon am Brunnen ankam, hatte er Jacke und Mantel angezogen. Morgenes war noch nicht da, und so marschierte der Junge ungeduldig im tiefen Schatten des Speisesaalgebäudes auf und ab, bis eine leise Stimme an seiner Seite ihn überrascht zusammenfahren ließ.

»Tut mir leid, daß du warten mußtest, Junge. Inch kam vorbei, und es war verteufelt schwer, ihn davon zu überzeugen, daß ich ihn nun doch nicht brauchte.« Der Doktor zog die Kapuze herunter und verbarg sein Gesicht.

»Wie seid Ihr denn so geräuschlos erschienen?« fragte Simon und imitierte das Flüstern des Doktors.

»Ich bin immer noch einigermaßen beweglich«, erwiderte der Doktor in gekränktem Ton. »Zwar bin ich alt, aber noch kein Moribundus.«

Simon wußte nicht, was ›Moribundus‹ bedeutete, verstand jedoch, was der Doktor sagen wollte. »Entschuldigung«, wisperte er.

Schweigend stiegen die beiden die Speisesaaltreppe und in den ersten Lagerraum hinunter. Dort zog Morgenes eine Kristallkugel von der Größe eines grünen Apfels hervor. Als er daran rieb, flackerte in der Mitte ein kleiner Funke auf, der ganz langsam heller wurde, bis er die Fässer und Ballen ringsum in weiches, honigfarbenes Licht tauchte. Morgenes verhüllte die untere Hälfte der Kugel mit dem Ärmel und hielt sie vor sich, während Simon und er sich vorsichtig einen Weg durch die aufgestapelten Vorräte suchten.

Die Falltür war geschlossen; Simon konnte sich nicht erinnern, ob er sie zugeworfen hatte, als er wie ein Wahnsinniger hinausgestürzt war. Sie stiegen vorsichtig, Simon voran, die Leiter hinunter; Morgenes, über ihm, hielt die glänzende Kugel nach allen Seiten. Simon zeigte ihm die kleine Kammer, in der Pryrates ihn um ein Haar entdeckt hätte; dann kletterten sie weiter bis ganz nach unten.

Der Raum dort war so unbewohnt wie zuvor, aber die Tür zum steinernen Gang wieder geschlossen. Simon war fast sicher, daß er sie nicht angerührt hatte, und erklärte das auch Morgenes. Aber der kleine Mann machte nur eine Handbewegung und trat an die Wand, wo er mit Hilfe von Simons Hinweisen die Stelle fand, an der sich der Spalt gezeigt hatte. Der Doktor rieb mit kreisenden Fingerbewegungen über die Mauer und murmelte dabei leise vor sich hin, aber keine Ritze wollte sich sehen lassen.