Nachdem Morgenes eine Weile vor der Mauer gehockt und mit sich selbst gesprochen hatte, bekam Simon es satt, von einem Fuß auf den ändern zu hüpfen, und kauerte sich neben ihn.
»Könnt Ihr nicht einfach irgendeinen Zauber sprechen, damit sie aufgeht?«
»Nein!« zischte Morgenes. »Kein vernünftiger Mensch, ich wiederhole, keiner, benutzt die Kunst, wenn es nicht unbedingt nötig ist – schon gar nicht, wenn er es mit einem anderen Adepten zu tun hat, wie wir hier mit unserem Vater Pryrates. Ebensogut könnten wir meinen Namen auf die Wand malen.«
Während Simon sich auf seine Fersen zurücklehnte und eine finstere Miene machte, legte der Doktor die linke Handfläche auf die Mitte der Stelle, an der die Tür gewesen war. Nachdem er die Oberfläche einen Moment lang vorsichtig abgeklopft hatte, versetzte er ihr mit der rechten Hand einen kräftigen Stoß – die Tür sprang auf, und Fackellicht ergoß sich in den Raum. Der Doktor spähte hinein. Dann ließ er den Lampenkristall in den Saum seines umfangreichen Ärmels gleiten und holte einen zusammengenähten Lederbeutel hervor.
»Ach, Simon, Junge«, kicherte er leise, »was für ein Dieb doch aus mir geworden wäre! Das war keine magische Tür – sie war nur mit Hilfe der Kunst versteckt. Jetzt komm mit.« Sie traten in den feuchten Steingang.
Ein sirupartiges Echo folgte ihren Schritten, als sie den feuchten Gang zu der verschlossenen Tür hinunterrutschten und -stapften. Morgenes beugte sich über das Guckloch und warf einen Blick ins Innere.
»Ich glaube, du hast recht, Junge«, zischte er. »Bei Nuannis Schienbein! Ich wünschte, es wäre anders.« Er wandte sich dem Schloß zu und untersuchte es genau. »Lauf ans Ende des Ganges und spitz die Ohren, ja?«
Während Simon Wache stand, wühlte Morgenes in seinem Lederbeutel und zog endlich eine lange, nadeldünne Klinge hervor, die in einem hölzernen Griff steckte. Damit winkte er Simon vergnügt zu.
»Naraxi-Schweinestecher. Wußte, daß ich den mal gut gebrauchen könnte!«
Er versuchte die Klinge am Schlüsselloch; sie glitt bequem in die Öffnung. Dann nahm er sie wieder heraus und schüttelte aus seinem Beutel ein winziges Krüglein, das er mit den Zähnen entkorkte. Simon sah gebannt zu. Morgenes kippte den Krug und ließ eine dunkle, klebrige Substanz auf die Nadelklinge fließen, um dann sofort die Spitze wieder in das Schlüsselloch zu stecken. Als sie in das Schloß eindrang, hinterließ sie glänzende Spuren. Morgenes wackelte kurz mit dem Schweinestecher hin und her, trat dann einen Schritt zurück und zählte an den Fingern ab. Als er beide Hände jeweils dreimal abgezählt hatte, packte er den schlanken Griff und drehte. Er verzog das Gesicht und ließ los.
»Komm her, Simon. Wir brauchen deine starken Arme.« Auf Anweisung des Doktors ergriff Simon das seltsame Werkzeug am unteren Ende und begann zu drehen. Zunächst glitten seine verschwitzten Handflächen von dem polierten Holz ab, dann aber packte er fester zu und fühlte nach kurzer Zeit, wie im Schloß etwas einrastete. Gleich darauf hörte er den Riegel zurückgleiten. Morgenes nickte mit dem Kopf, und Simon stieß mit der Schulter die Tür auf.
Die schwelenden Binsen in der Wandhalterung verbreiteten nur schwaches Licht. Als Simon und der Doktor eintraten, sahen sie, wie die angekettete Gestalt im Hintergrund der Zelle aufblickte und ihre Augen sich langsam weiteten, als erkenne sie die beiden wieder. Der Mund arbeitete, aber nur ein rauher Atemzug kam heraus. Der Gestank nach nassem, beschmutztem Stroh war überwältigend.
»Ach … ach … mein armer Prinz…«, brachte Morgenes hervor.
Während der Doktor eilig Josuas Handschellen untersuchte, konnte Simon nur zusehen und stand dem reißenden Strom der Ereignisse so hilflos gegenüber, als träume er. Der Prinz war qualvoll dünn und so bärtig wie ein wandernder Prophet des Unheils; die Hautpartien, die trotz des elenden Sacks, in dem er steckte, zu erkennen waren, bedeckten rote Schwären.
Morgenes flüsterte etwas in Josua Ohnehands Ohr. Er hatte seinen Beutel wieder hervorgeholt und hielt in der Hand einen flachen Tiegel von der Sorte, in der Damen ihre Lippenschminke aufbewahren. Energisch rieb der kleine Doktor etwas von dem Inhalt erst auf seine eine, dann auf die andere Handfläche und sah sich noch einmal genau Josuas Fesseln an. Beide Arme waren an einen massiven, in der Mauer befestigten Eisenring gekettet; der eine mit einer Handschelle, der handlose mit einer Art Manschette um den dünnen Oberarm des Prinzen.
Als Morgenes mit dem Einschmieren seiner Hände fertig war, reichte er Simon Tiegel und Beutel. »Jetzt sei ein braver Junge«, sagte er, »und halt die Hand vor die Augen. Ich habe einen in Seide gebundenen Band von Plesinnen Myrmenis – den einzigen nördlich von Perdruin – für diesen Schlamm eingetauscht. Ich hoffe nur – Simon, bitte halt dir die Augen zu…«
Der Junge hob die Hände und sah noch, wie Morgenes nach dem Ring griff, der die Kette des Prinzen im Stein festhielt. Gleich darauf blitzte ein rosenroter Lichtstrahl durch Simons verschränkte Finger, gefolgt von einem Knall, als schlüge ein Hammer auf Schiefer. Als er wieder hinsah, lag Prinz Josua inmitten seiner Ketten auf dem Boden; Morgenes kniete mit qualmenden Handflächen daneben. Der Mauerring war geschwärzt und verdreht wie ein verbrannter Haferkuchen.
»Puh!« Der Doktor schnappte nach Luft. »Ich hoffe nur … ich hoffe … daß ich das nie wieder machen muß. Kannst du den Prinzen aufheben, Simon? Ich bin sehr schwach.«
Josua rollte steif zur Seite und sah sich um. »Ich glaube … ich … kann … gehen. Pryrates … hat mir etwas … gegeben.«
»Unfug.« Morgenes holte tief Atem und kam schwankend auf die Füße. »Simon ist ein kräftiger Bursche – los, komm, Junge, halt keine Maulaffen feil! Heb ihn auf!«
Nach einigem Hin und Her gelang es Simon, die herunterhängenden Stücke von Josuas Ketten, die noch immer an Handgelenk und Arm befestigt waren, um die Mitte des Prinzen zu schlingen. Dann nahm er Josua mit Morgenes' Hilfe auf den Rücken wie ein Kind, das man huckepack trägt. Er stand auf und holte tief Luft. Zuerst fürchtete er, er würde es nicht schaffen, aber dann schob er sich den Prinzen mit einem ungeschickten Hüftschwung höher auf den Rücken und stellte fest, daß es selbst mit dem zusätzlichen Gewicht der Ketten nicht unmöglich war.
»Wisch dir das alberne Grinsen vom Gesicht, Simon«, ermahnte ihn der Doktor. »Wir müssen ihn noch die Leiter hinaufbekommen.«
Irgendwie gelang es ihnen – Simon, der vor lauter Anstrengung ächzte und beinahe geweint hätte, Josua, der sich mit seinen schwachen Kräften an den Leitersprossen hochzog, und Morgenes, der von hinten schob und ihnen aufmunternde Worte zuflüsterte. Es war ein langer, alptraumhafter Anstieg, aber endlich erreichten sie den Hauptlagerraum. Morgenes huschte voraus, während Simon sich zum Ausruhen an einen Ballen lehnte, den Prinzen immer noch auf dem Rücken.
»Irgendwo, irgendwo…« murmelte Morgenes und drängte sich durch die enggestapelten Vorräte. Als er die Südwand des Raumes gefunden hatte, leuchtete er mit seinem Kristall vor sich und begann ernsthaft nach etwas zu suchen.
»Was …?« wollte Simon fragen, aber der Doktor gebot ihm mit einer Geste zu schweigen. Während Morgenes hinter Faßbergen auftauchte und wieder verschwand, spürte Simon eine ganz zarte Berührung auf seinem Haar. Der Prinz strich ihm sanft über den Kopf.
»Wirklich! Wirklich!« hauchte Josua. Simon fühlte, wie ihm etwas Warmes in den Nacken rann.
»Gefunden!« kam Morgenes' unterdrückter, aber triumphierender Ausruf. »Kommt her!« Simon erhob sich leicht schwankend und trug den Prinzen mit sich. Der Doktor stand an der kahlen Steinwand und deutete auf eine Pyramide aus großen Fässern. Der Lampenkristall verlieh ihm den Schatten eines turmhohen Riesen.