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Simon kniete neben dem Prinzen nieder und zerbrach mit ein paar scharfen Hieben das Schloß des Bandes, das Josuas rechten Arm umspannte. Als er auf die linke Seite des Prinzen hinüberwechselte, öffnete Josua erneut die Augen und legte Simon abwehrend die Hand auf den Arm.

»Nimm mir an dieser Seite nur die Kette ab, Junge.« Ein gespenstisches Lächeln flackerte über sein Gesicht. »Die Handschelle laß mir zur Erinnerung an meinen Bruder.« Er streckte den verdorrten Stumpf des rechten Handgelenks aus. »Wir haben eine Art Kerbholz, weißt du.«

Simon überlief es plötzlich kalt, und er zitterte, als er Josuas linken Unterarm gegen die Steinplatten drückte. Mit einem einzigen Hieb durchtrennte er die Kette und ließ die Manschette aus geschwärztem Eisen oberhalb der fehlenden Hand an ihrem Platz.

Morgenes erschien mit einem Bündel schwarzer Kleider. »Kommt, Josua. Wir müssen uns beeilen. Es ist schon fast eine Stunde nach Einbruch der Dunkelheit, und wer weiß, wann sie anfangen werden, nach Euch zu suchen. Ich habe meinen Dietrich abgebrochen im Schloß stecken lassen, aber das wird sie nicht lange daran hindern, Euer Verschwinden zu entdecken.«

»Was wollen wir tun?« fragte der Prinz, der unsicher auf den Füßen stand und sich von Simon in die muffig riechenden Bauernkleider helfen ließ. »Wem in der Burg können wir vertrauen?«

»Im Augenblick niemandem – nicht so ohne Vorwarnung. Darum müßt Ihr sofort nach Naglimund aufbrechen. Nur dort seid Ihr in Sicherheit.«

»Naglimund…« Josua machte einen verwirrten Eindruck. »In all diesen grauenvollen Monaten habe ich so oft von meiner Heimat geträumt … doch nein! Ich kann nicht fort; ich muß dem Volk die Falschheit meines Bruders zeigen. Ich werde starke Arme finden, die mich unterstützen.«

»Nicht hier … und nicht jetzt.« Morgenes sprach mit fester Stimme, die hellen Augen gebieterisch. »Ihr würdet wieder im Verlies landen, und dieses Mal würde man Euch sehr schnell und in aller Heimlichkeit enthaupten. Begreift Ihr nicht? Ihr müßt an einen befestigten Ort gehen, wo Ihr vor Verrat sicher seid, bevor Ihr Ansprüche durchsetzen könnt. Wie viele Könige haben schon ihre Verwandten gefangengesetzt und getötet – und die meisten blieben ungestraft. Es braucht mehr als Familienstreitigkeiten, um die Bevölkerung zum Aufstand zu bringen.«

»Nun gut«, antwortete Josua unwillig, »selbst wenn Ihr recht hättet, wie sollte ich entkommen?« Ein Hustenanfall schüttelte ihn. »Die Burgtore sind … sind ohne Zweifel für die Nacht geschlossen. Soll ich als fahrender Sänger verkleidet zum Inneren Tor schlendern und versuchen, mir den Durchlaß zu ersingen?«

Morgenes lächelte. Simon war beeindruckt vom Mut des grimmigen Prinzen, der noch vor einer Stunde ohne Hoffnung auf Rettung in einer feuchten Zelle in Ketten gelegen hatte.

»Wie der Zufall es will, habt Ihr mich mit dieser Frage nicht unvorbereitet getroffen«, erklärte der Doktor. »Bitte schaut her.«

Er ging zur Hinterwand des langen Zimmers, in die Ecke, in der Simon einst an der rauhen Steinmauer geweint hatte. Dort zeigte er auf die Sternkarte, deren miteinander verbundene Konstellationen einen großen, vierfach geflügelten Vogel formten. Mit einer kleinen Verbeugung zog Morgenes die Karte beiseite. Dahinter lag eine große, viereckige, in den Felsen gehauene Öffnung mit einer Holztür.

»Wie bereits vorgeführt, ist Pryrates nicht der einzige hier, der um verborgene Türen und Geheimgänge weiß.« Der Doktor lachte vergnügt. »Vater Rotmantel ist neu am Ort und muß noch viel über diese Burg lernen, die länger, als ihr beide es euch vorstellen könnt, mein Zuhause gewesen ist.«

Simon war so aufgeregt, daß er kaum stillstehen konnte, während Josua ein bedenkliches Gesicht machte. »Wohin führt das, Morgenes?« fragte er. »Es wird mir wenig nützen, wenn ich Elias' Verlies und Folterbank entkomme, nur um mich dann im Burggraben des Hochhorstes wiederzufinden.«

»Habt keine Sorge. Diese Burg ist auf einem Kaninchenbau von Höhlen und Tunneln erbaut, ganz zu schweigen von den Ruinen der noch älteren Burg unter uns. Das ganze Labyrinth ist so riesig, daß nicht einmal ich es auch nur zur Hälfte kenne – aber ich weiß genug davon, um Euch einen sicheren Ausgang zu verschaffen. Schaut her!«

Morgenes führte den auf Simons Arm gestützten Prinzen an den großen, das ganze Zimmer einnehmenden Tisch. Dort breitete er ein zusammengerolltes Pergament aus, dessen Ränder vor Alter grau und ausgefranst waren.

»Ihr seht«, begann Morgenes, »daß ich nicht müßig war, während mein junger Freund sein Abendessen einnahm. Dies ist ein Plan der Katakomben – zwangsläufig nur eines Teilbereiches, aber Eure Route ist darauf gekennzeichnet. Wenn Ihr Euch sorgfältig daran haltet, werdet Ihr zum Schluß auf dem Begräbnisplatz, jenseits der Mauern von Erchester, wieder an die Oberfläche kommen. Von dort aus findet Ihr sicherlich den Weg zu einem Unterschlupf für die Nacht.«

Nachdem sie die Karte studiert hatten, nahm Morgenes Josua beiseite, und die beiden sprachen im Flüsterton miteinander. Simon, der sich mehr als nur ein wenig davon ausgeschlossen fühlte, stand da und betrachtete den Plan des Doktors. Morgenes hatte den Weg mit roter Tinte eingezeichnet. Von den vielen Drehungen und Windungen schwirrte Simon schon jetzt der Kopf.

Als die beiden Männer ihre Diskussion beendet hatten, nahm Josua die Karte an sich. »Nun denn, alter Freund«, sagte er ruhig, »wenn ich gehen muß, dann am besten gleich. Es wäre unklug, fände mich die nächste Stunde noch hier im Hochhorst. Über die anderen Dinge, die Ihr mir mitgeteilt habt, werde ich sorgfältig nachdenken.« Sein Blick schweifte über den vollgestopften Raum. »Ich fürchte nur das Schicksal, das Eure tapferen Taten über Euch bringen könnten.«

»Daran könnt Ihr nichts ändern, Josua«, erwiderte Morgenes. »Auch bin ich nicht völlig ohne Verteidigung; es gibt ein paar Finten und Tricks, von denen ich Gebrauch machen kann. Sobald mir Simon von Eurer Entdeckung berichtete, habe ich mit gewissen Vorbereitungen begonnen. Ich fürchtete schon seit langem, daß ich zum Handeln gezwungen werden könnte; durch das heutige Ereignis ist nur eine geringfügige Beschleunigung eingetreten. Hier, nehmt diese Fackel.«

Mit diesen Worten nahm der kleine Doktor eine Kienfackel von der Wand und reichte sie dem Prinzen, dazu einen Sack, der daneben am Haken gehangen hatte.

»Ich habe Euch etwas zu essen und noch ein wenig von dem Heiltrank eingepackt. Es ist nicht viel, aber Ihr müßt mit leichtem Gepäck reisen. Bitte beeilt Euch jetzt.« Er hob die Sternkarte hoch und hielt sie von der Türöffnung zurück. »Sendet mir Botschaft, sobald Ihr sicher in Naglimund angekommen seid, und ich werde Euch noch andere Dinge berichten.«

Der Prinz nickte und hinkte langsam in die Öffnung des Ganges hinein. Die Fackelflamme schob seinen Schatten tief in den Schacht hinunter, als er sich noch einmal umdrehte.

»Ich werde Euch das nie vergessen, Morgenes«, erklärte er. »Und du, junger Mann … du hast heute eine tapfere Tat getan. Ich hoffe, daß du eines Tages deine Zukunft darauf aufbauen kannst.«

Simon kniete nieder; seine Gefühle machten ihn verlegen. Der Prinz sah so abgehärmt und grimmig aus. Der Junge empfand Stolz und Trauer und Furcht, die alle zugleich auf ihn einstürmten und seine Gedanken aufrührten und trübe machten.

»Lebt wohl, Josua«, sagte Morgenes und legte Simon die Hand auf die Schulter. Zusammen beobachteten sie, wie die Fackel des Prinzen sich im dunklen Gang verlor, bis die Schwärze sie verschlang. Der Doktor zog die Tür zu und ließ den Vorhang darüber fallen.

»Komm, Simon«, meinte er dann, »wir haben noch viel Arbeit. Pryrates wird seinen Gast für die heutige Steinigungsnacht vermissen, und ich kann mir nicht vorstellen, daß ihn das freut.«

Einige Zeit verging in Schweigen. Simon hockte auf der Tischplatte und ließ die Beine baumeln. Er hatte Angst, genoß aber dennoch die Erregung, die den Raum erfüllte – eine Spannung, die inzwischen über der ganzen, sonst so gesetzten alten Burg hing. Morgenes huschte nach allen Richtungen an ihm vorüber und eilte von einer unverständlichen Tätigkeit zur nächsten.